Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
erfassen. Angeblich ist sie als Zehnjährige von einem methodistischen Geistlichen missbraucht worden.
»Er wollte mir ein Eis kaufen, aber schließlich habe ich etwas anderes geleckt.« Sie beschönigt nichts. »Ich war schrecklich verliebt. Es war so aufregend, und ich habe mich als etwas Besonderes gefühlt, obwohl das mit dem Besonderen rückblickend betrachtet vermutlich nicht gestimmt hat.« Sie beschreibt ihre sexuelle Beziehung mit ihm in allen Details. »Es waren eher Scham und Angst. Ich habe mich zurückgezogen. Heute erkenne ich das. Anstatt mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, habe ich die meiste Zeit allein verbracht.«
Ihre ungefesselten Hände krampfen sich auf dem Schoß ineinander. Nur um die Knöchel trägt sie Eisen, und die Ketten scharren klappernd am Beton, wenn sie unruhig mit den Füßen zappelt.
»Rückblickend ist man immer schlauer, wie es so schön heißt«, fährt sie fort. »In Wahrheit konnte ich niemandem erzählen, was in meinem Leben los war. Die Lügen, das heimliche Herumgeschleiche zu Motels und Telefonzellen und all die Dinge, von denen ein kleines Mädchen eigentlich nichts wissen sollte. Ich hörte auf, ein kleines Mädchen zu sein. Das hat er mir weggenommen. Es ging so weiter, bis er eine Stelle in einer großen Kirchengemeinde in Atlanta bekam. Als ich etwas mit Jack anfing, war mir gar nicht klar, dass ich ihm im Grunde genommen das Gleiche antat, denn ich war zu diesem Verhalten ermuntert und abgerichtet worden, während man ihn darin bestärkt hatte, es zu dulden und es zu wollen. Und, o ja, wie er es wollte. Aber mittlerweile verstehe ich die Zusammenhänge. Ich habe ein ganzes Leben gebraucht, um zu begreifen, dass wir nicht in die Hölle kommen, sondern sie auf einem bereits für uns gelegten Fundament selbst errichten. Wir bauen uns die Hölle wie ein Einkaufszentrum.«
Bis jetzt hat sie mir den Namen des Geistlichen nicht genannt. Sie hat nur erwähnt, dass er verheiratet war, sieben Kinder hatte und seine gottgegebenen Bedürfnisse befriedigt sehen wollte. Kathleen habe er als seine spirituelle Tochter, seine Seelenverwandte bezeichnet. Es sei richtig und gut, sich in einem heiligen Bund zu vereinen. Am liebsten hätte er sie geheiratet und sich offen zu seiner tiefen Zuneigung bekannt. Doch Scheidung sei für ihn eine Sünde gewesen, erklärt Kathleen mit stumpfer, tonloser Stimme. Er habe seine Kinder nicht im Stich lassen wollen. Das hätte gegen die göttliche Lehre verstoßen.
»Verdammter Schwachsinn«, stößt sie hasserfüllt hervor. Ihr Blick aus Tigeraugen ist unverwandt. Ihr früher hübsches Gesicht hat inzwischen die Form einer Erdnuss und ist eingefallen. Die einst sinnlichen und vollen Lippen sind von einem Spinnennetz aus Fältchen umgeben. Außerdem fehlen ihr einige Zähne.
»Natürlich war das nichts als gequirlte Scheiße. Wahrscheinlich hat er sich ein anderes kleines Mädchen gesucht, als ich anfing, mich untenrum zu rasieren, und mich rar gemacht habe, wenn ich meine Tage hatte. Hübsch, klug und begabt zu sein hat mich nicht sehr weit gebracht, so viel steht, verdammt noch mal, fest«, beteuert sie, als wolle sie mir unter allen Umständen begreiflich machen, dass das menschliche Wrack, das mir da gegenübersitzt, nicht wirklich sie selbst ist. Und noch viel weniger diejenige, die sie einmal war.
Ich soll mir Kathleen Lawler als jung, schön, intelligent, frei und voll der besten Absichten vorstellen, als sie in einer Einrichtung für schwererziehbare Jugendliche eine sexuelle Beziehung mit dem zwölfjährigen Jack Fielding anfing. Doch ich sehe nur die Schäden, hervorgerufen durch einen Missbrauch, der einen weiteren und noch einen zur Folge hatte. Falls ihre Geschichte mit dem Geistlichen wahr ist, hat er ihr ebenso weh getan wie sie später Jack, und das Werk der Zerstörung ist noch nicht vollendet. Wahrscheinlich wird das auch nie der Fall sein. Eine Tat, ein Betrug, eine Lüge, an die man sich klammert und die sich immer mehr steigert, bis der kritische Punkt erreicht ist. Dann werden Leben zerstört, vernichtet und in den Schmutz gezogen. Man zimmert sich seine eigene Hölle. Mit eingeschalteter Beleuchtung und einladend wie das Motel, das Kathleen in dem Gedicht beschrieben hat.
»Ich frage mich oft, ob sich mein Leben wohl anders entwickelt hätte, wenn gewisse Dinge nicht geschehen wären«, meint sie niedergeschlagen. »Aber vielleicht würde ich trotzdem jetzt hier auf diesem Stuhl sitzen. Vielleicht hat Gott die
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