Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
während der mehr als zwanzig Jahre, die wir wieder zusammengearbeitet haben, nicht immer über seinen Aufenthaltsort informiert«, antworte ich als Aufforderung, mir mehr über ihn zu erzählen.
»Jack, Jack, Jack«, seufzt sie. »Du bist ständig in der Weltgeschichte herumgegondelt. Einen Tag hier, den nächsten dort, während ich in diesem Drecksloch festsaß. Den Großteil meines Lebens habe ich hier in verschiedenen Zellen verbracht, weil ich dich geliebt habe, Jack.«
Als sie erst das Foto und dann mich betrachtet, ist ihr Augenausdruck eher hart als traurig.
»Offenbar komme ich draußen nie lange zurecht«, fügt sie hinzu, als sei ich hergekommen, um alles über sie zu erfahren. »Wie ein Süchtiger, der immer wieder rückfällig wird. Nur, dass mein Problem nicht die Abstinenz ist, sondern der Erfolg. Ich konnte mir nie den Erfolg zugestehen, den ich hätte haben können, weil es nicht in meinen Karten steht. Jedes Mal gehe ich es so an, dass ich einfach scheitern muss. Das meinte ich mit den Genen. Das Scheitern liegt in meiner DNA. Gott hat es für mich und für alle meine Nachfahren so entschieden. Ich habe Jack angetan, was mir angetan wurde, doch er hat mir nie Vorwürfe gemacht. Nun ist er tot, und für mich wäre es wohl auch das beste, denn die Dinge, die im Leben eine Rolle spielen, haben ihren eigenen Willen. Wir sind beide Opfer, vielleicht sogar Opfer des Allmächtigen selbst.
Und Dawn?«, spricht Kathleen weiter. »Tja, ich wusste vom ersten Tag an, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie hatte nie eine Chance. Ein Frühchen, ein winziges, im Brutkasten an Kabel und Schläuche angeschlossenes Geschöpf. So sagte man mir wenigstens. Ich habe sie ja nicht selbst gesehen. Sie nie im Arm gehalten. Wie soll so ein kleines Wesen Nähe zu anderen Menschen lernen, wenn es die ersten beiden Lebensmonate in einem Glaskasten verbringt, während Mama im Knast sitzt? Danach eine Reihe von Pflegefamilien, mit denen sie nicht klar- kam, und schließlich endete sie bei einem Paar in Kalifornien, das bei einem Autounfall starb. Sind über eine Klippe gestürzt oder etwas ähnlich Tragisches. Zum Glück hat Dawn damals schon mit einem vollen Stipendium in Stanford studiert. Und zu guter Letzt war sie dann bis zum Schluss in Harvard.«
Dawn Kincaid hat vor dem Wechsel ans MIT – und nicht nach Harvard – in Berkeley und nicht in Stanford studiert. Doch ich verbessere ihre Mutter nicht.
»Wie mir standen ihr alle Möglichkeiten der Welt offen, und nun ist ihr Leben vorbei, ehe es angefangen hat«, fährt Kathleen fort. »Ganz gleich, wie der Prozess auch ausgeht, alle werden sich nur noch daran erinnern, dass sie eines Verbrechens verdächtigt wurde. Sie kann einpacken. Eine Stelle in einem streng geheimen Labor wie die, die sie hatte, kriegt man nicht mehr, wenn man Verdächtige in einem Strafverfahren ist.«
Dawn Kincaid ist mehr als nur eine Verdächtige. Sie muss sich wegen verschiedener Anklagepunkte, einschließlich mehrerer vollendeter und versuchter Morde, vor Gericht verantworten. Doch ich schweige.
»Und dann noch das, was mit ihrer Hand passiert ist.« Kathleen hält die rechte Hand hoch. Ihr Blick durchbohrt mich. »In dem technischen Bereich, in dem sie tätig ist, muss sie mit Nanowerkzeugen und so weiter arbeiten. Nun hat sie eine bleibende Behinderung, weil sie einen Finger verloren hat und die Hand nicht mehr gebrauchen kann. Sie ist doch schon genug gestraft. Haben Sie denn kein schlechtes Gewissen? Jemanden so zu verstümmeln.«
Dawn hat nicht den ganzen Finger verloren, sondern nur die Fingerspitze, und Verletzungen an den Sehnen erlitten. Nach Auffassung des Chirurgen wird ihre rechte Hand wieder vollständig funktionstüchtig werden. Ich gebe mir Mühe, das Bild beiseite zu schieben. Das klaffende schwarze Viereck, wo die Fensterscheibe fehlte, der hereinwehende Wind und eine ra- sche Bewegung in der dunklen, eiskalten Luft, als mich etwas mit Wucht zwischen den Schulterblättern traf. Ich erinnere mich noch, dass ich das Gleichgewicht verloren habe, während ich ziellos mit der schweren Stabtaschenlampe ausholte und spürte, wie sie auf etwas Festes traf. Im nächsten Moment ging das Licht in der Garage an, und Benton zielte mit der Pistole auf eine junge Frau in einem schwarzen Mantel, die bäuchlings auf dem Boden lag. Hellrote feuchte Blutstropfen waren um die Spitze eines Zeigefingers mit einem weißen, französisch manikürten Nagel verteilt. Und daneben erkannte ich das
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