Blut für Blut: Thriller (German Edition)
war, doch sie erinnerte sich noch genau an die Umgebung. Das Haus lag mitten in einem größeren Naturschutzgebiet, nur wenige Hundert Meter vom Meer entfernt. Wenn der Wind von Westen kam, konnte man auf dem Grundstück das Brausen des Meeres so deutlich hören, als stehe man direkt daneben.
Sie ging über die schiefen Steinplatten, an der rostigen Wasserpumpe vorbei, die sie als Kind geliebt hatte. Sie erinnerte sich an einen besonders trockenen Sommer, wo sie stundenlang Wasser in große hellgelbe Eimer gepumpt und ihrer Tante geholfen hatte, die vielen Pflanzen und Blumen auf dem Grundstück zu gießen. Sie stellte fest, dass die Jahre das alte Holzhaus ein wenig mitgenommen hatten und das Haus einen Anstrich vertragen könnte, doch der Gedanke schreckte sie nicht, obwohl sie jegliche handwerkliche Arbeit hasste und sich für absolut untalentiert hielt. Wenn die Wohnung im Valbygårdsvej gestrichen werden musste, ließ sie das immer machen, und wenn ein Abfluss verstopft oder eine Toilettenschüssel lose war, war in den vergangenen Jahren immer Hans-David, Dortes Mann, angerückt, der auch die Stereoanlage angeschlossen und die Fernsehkanäle eingestellt hatte. Sie schloss die Tür mit einem altmodischen Schlüssel auf und trat direkt in die blau gestrichene Küche, in der es schwach nach Feuchtigkeit und verwelkten Blumen roch. Die Küche ging in ein großes Wohnzimmer über, dessen Terrassentüren auf das Grundstück führten. Sie sah sich um, alles sah aus wie immer, und einen Augenblick hatte sie das Gefühl, in die Siebzigerjahre zurückversetzt zu werden. Die Sofagruppe aus Bambus mit den klein geblümten Bezügen, die harte Klappbank vor dem Esstisch und das schmale dunkelbraune Regal, das mit Krimis und Kreuzworträtseln vollgestopft war. An der Holzwand hing eine Fliegenklatsche neben einem vergoldeten Barometer. Sie warf einen schnellen Blick in die beiden kleinen Schlafräume und stieß sich den Kopf an der schrägen Decke. Sie fluchte laut, das Haus kam ihr plötzlich so klein wie ein Puppenhaus vor, und sie fühlte sich viel zu groß und plump.
Sie ging nach draußen, lief durch das hohe Gras, das ihre nackten Beine streichelte. Sie blieb bei dem verrosteten Schaukelgerüst stehen, das hinter ein paar Lärchen versteckt war. Wie viel Zeit sie doch auf der knarrenden Schaukel verbracht hatte. Am besten war es gewesen, so hoch zu schaukeln, dass es im Bauch kitzelte, und den Kopf in den Nacken zu legen. Der blaue Himmel schaukelte dann wie ein Schiff, und die Mischung aus diesem Kribbeln und einer leichten Übelkeit war einfach göttlich. Eine der Ketten war kaputt, und die Schaukel hing schlapp im Gras. Eine Hummel summte in einem nahen Hagebuttenstrauch, und langsam verzog sich der Missmut der letzten Tage. Sie hatte ihren Entschluss gefasst, sie würde das Haus nicht verkaufen, sondern es nutzen, im Sommerhalbjahr vielleicht sogar einige Monate hier wohnen, obwohl die Fahrt nach Kopenhagen anderthalb Stunden dauerte.
Sie holte ihre Strandtasche aus dem Kofferraum und spazierte den staubigen Weg hinunter, der mit Tannennadeln und trockenen Tannenzapfen bedeckt war, und stand wenige Minuten später unten am Strand. Das Wasser war völlig still, und der Strand lag verlassen vor ihr. Sie zog sich bis auf den Slip aus und machte einen großen Schritt über den Tang, der wie eine grünlila Kante den Wasserrand säumte. Das Wasser war kalt, und sie stieß einen lauten Schrei aus, bevor sie sich zwang unterzutauchen.
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Winzige Regentropfen fielen vom Himmel und verschleierten die üppige Schönheit des Kastells. Jerome öffnete das Fenster, der kühle Regen fühlte sich befreiend an nach der intensiven Wärme der letzten Tage. Alles würde jetzt rein gewaschen, abgespült und gesäubert. Er spürte ein Paar starke Arme um seine Taille und hörte Liams Stimme in seinem Ohr.
»Woran denkst du, love ?«
Jerome zuckte mit den Schultern. Es war so schwer, Liam all die Gefühle zu erklären, die er die letzten Wochen durchlebt hatte. Die Trauer um Kissi, die Sehnsucht nach ihr, den Verdacht gegenüber Liam, Liams Lüge, dass er zum Karatetraining gewesen sei, und vor allem der Schreck und die Trauer darüber, dass Thomas, sein geliebter Sohn, all diese Frauen vergewaltigt und ermordet hatte … Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, das war einfach nicht zu verstehen, er verstand es noch immer nicht, obwohl er es mehrere Male erklärt bekommen hatte, doch sein Verstand schien sich zu weigern, die
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