Blut für Blut: Thriller (German Edition)
Kugelschreiber beschmiert und alle möglichen Schimpfworte darauf geschrieben: Luder, Flittchen, Nutte und so weiter. Kissi hat mir erzählt, dass sie richtig Angst bekommen hat, als sie die Fotos gesehen hat, und dass sie direkt ins Bett gegangen und mehrere Tage dort geblieben ist, während sie überlegt hat, was sie tun sollte. Aber sie hat nichts getan. Sie hat sich entschieden, das Ganze zu vergessen, zu verdrängen. Es wurde sozusagen zu einem blinden Fleck.«
Kristine räusperte sich. Ihre Stimme war heiser vor Emotionen, und sie fügte flüsternd hinzu: »Kissi hat mich mit Tränen in den Augen angesehen und gesagt: ›Du hättest das Gleiche getan, wäre es dein Sohn gewesen.‹«
Kristine hob abwehrend die Hand und putzte sich die Nase. Rebekka und Reza sahen sie abwartend an, es war offensichtlich, dass sie ihre Geschichte in ihrem eigenen Tempo erzählen musste.
»Zuerst habe ich mit ihr gefühlt, ich sah plötzlich eine alte, verhärmte Frau vor mir, die ihre Kinder liebte, genau wie meine Eltern mich und meine Schwester geliebt hatten. Sekunden später empfand ich tiefen Abscheu vor ihr, das muss man sich einmal vorstellen. Sie hat einen Mörder gedeckt, sie, die so rechtschaffen war, sie, die in der Zeitung, im Radio und im Fernsehen von Gerechtigkeit redete und zu der alle aufblickten, weil sie so perfekt war und immer das Richtige tat. Ich wurde so wütend, dass es vor meinen Augen rot aufloderte, ich konnte fast nichts mehr sehen. Ich hatte Lust, sie zu schlagen, sie zu vernichten, ihr Leben zu zerstören, um ihr einmal zu zeigen, wie das ist, wenn das eigene Leben zerstört wird. So wie mein Leben damals.«
Kristines Gesicht verzerrte sich.
»Als wir Charlotte verloren haben, nahm ein Albtraum seinen Anfang, der nie aufgehört hat. Wir leben diesen Albtraum jeden Tag. Mein Vater begann zu trinken, er ertrug die Trauer einfach nicht, das Leben tat zu weh. Meine Mutter wurde zu einem Schatten ihrer selbst, sie ging ihrer Arbeit nach, aber das war auch alles. Für mich hatte sie keine Kraft, sie schaffte rein gar nichts mehr. Niemand kümmerte sich um mich, und ich war doch erst fünfzehn. Ich saß einfach Tag für Tag auf meinem Zimmer, und wenn ich nicht Tagebuch geschrieben hätte, wäre ich verrückt geworden. Die Sehnsucht nach Charlotte blieb unvermindert stark, und dass der Mord nicht aufgeklärt wurde, machte es nur noch schlimmer. Es war unerträglich. Wir wussten sehr wohl, dass seine Aufklärung uns Charlotte nicht zurückgeben würde, aber wir wünschten uns Gerechtigkeit, der Täter sollte seine Strafe bekommen und daran gehindert werden, noch andere Familien zu zerstören, so wie er unsere zerstört hatte. Meine Mutter ist letztes Jahr an Brustkrebs gestorben, sie konnte einfach nicht mehr kämpfen, sie wollte nur noch zu Charlotte – und mein Vater, nun ja … Sie haben ihn ja in Ingeborggården gesehen.« Kristine nickte Rebekka zu, während sie sagte: »Mein Vater hat sich vor Trauer den Verstand weggesoffen. Bevor meine Schwester ermordet wurde, hatte er kein Alkoholproblem. Und jetzt bin nur noch ich übrig.«
Kristine weinte leise in die Decke.
»Wann ist Ihnen der Gedanke gekommen, Kissi umzubringen?«, fragte Reza und schenkte ihr Chai nach, der nicht mehr dampfte, aber noch lauwarm war.
»Ich habe nicht geplant, sie umzubringen. Das habe ich wirklich nicht. Es ist einfach passiert. Sie war selbst schuld. Sie hätte einfach die Wahrheit sagen sollen.« Kristine sah sie trotzig an.
»Als sie dagesessen und mir ihr Geheimnis anvertraut hat, war ich total schockiert. Ich musste einfach weg, weg von ihr. Ich habe mich damit entschuldigt, dass ich zu viel getrunken hatte, und bin ins Haus gelaufen, um meine Tasche zu holen. Ich wollte nach Hause. Ich habe den ganzen Sonntag im Bett gelegen, ich konnte mich nicht bewegen, die Gedanken kreisten in meinem Kopf, immer schneller. Ich wünschte mir, einfach zu verschwinden, zu sterben. Es tat zu weh zu wissen, dass ein Mensch, den ich so sehr schätzte wie Kissi, eine Person, die ich bewunderte und wie die ich gerne wäre, dass gerade sie den Mörder meiner Schwester geschützt hatte. Ich wurde immer wütender und verzweifelter, je klarer mir das Ganze wurde. Ich kam zu dem Schluss, dass ich mit ihr sprechen, sie zur Rede stellen musste. Sie hatte schließlich keine Ahnung, dass ich Charlottes kleine Schwester war, ich wollte ihr sagen, dass ich erwartete, dass sie zur Polizei ging und ihnen von ihrem Verdacht gegen Thomas
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