Blut muss fließen
Ich lag richtig, und es kam ein erster Fernsehbeitrag mit meiner Beteiligung zustande.
Die Arbeit mit dem Spiegel TV Magazin war ein unbeschreiblicher Motivationsschub. Ich war sprichwörtlich im siebten Himmel – aber mir war bewusst, dass ich dort nicht würde bleiben können. Zumindest nicht sofort. Ich begann in der Folgezeit, mit aller Kraft darauf hinzuwirken, dass es nicht bei diesem einen Einsatz als Undercover-Joker blieb.
Um meine Rolle als Neonazi zu perfektionieren, hörte ich fast nur noch Rechtsrock. Auf Konzerten und in Neonazi-Läden kaufte ich mehr als 300 CDs, um die Lieder kennenzulernen und im Smalltalk über die neusten Scheiben bestehen zu können. Teilweise wusste ich in Szeneangelegenheiten besser Bescheid als die Nazi-Skins selbst.
Fast jede Nacht war ich im Internet, um meine Pseudonym-Kontakte zu pflegen und »Heimatseiten« der Szene zu durchforsten. Eine mehrstündige Prozedur, immer und immer wieder. Ich fuhr abends bis zu einer Stunde lang zu Internet-Cafés, um meine Fake-Accounts in verschiedenen Regionen verorten zu können. Denn jede E-Mail hat eine Art Poststempel im Anhang, eine IP-Adresse. Der Zahlencode verrät, aus welcher Gegend der elektronische Brief abgeschickt worden ist.
Die Herausforderungen der Undercover-Recherche beschäftigten mich pausenlos. Ich konnte bald nicht mehr abschalten. In jeder freien Minute dachte ich über neue Identitäten und bessere Kameralösungen nach. Perfektion war notwendig, um die Lebensgefahr zu minimieren. Hätte der »Saalschutz« der Nazis Verdacht geschöpft und meine Kamera entdeckt, dann wäre ich zusammengeschlagen und zusammengetreten, womöglich zum Krüppel oder totgeprügelt worden. Im Internet konnte ich lesen, was die Neonazis mit mir machen wollten: »Wenn wir den erwischen, dann stellen wir ihn auf | 13 | die Bühne – der Rest ergibt sich von selbst .« Was würde das vor Ort bedeuten? Mehr als zehn Personen gleichzeitig können kaum auf einen eindreschen. Bei Rechtsrockkonzerten sind Hunderte, manchmal Tausende Nazis. Aus dieser Meute heil herauskommen? Keine Chance. Bis zum theoretisch möglichen Eingreifen der Polizei, die oft nicht einmal vor Ort war, wäre es zu spät gewesen.
Die Angst war daher mein ständiger Begleiter. Nur in dem Bewusstsein, dass die Technik ideal platziert und der erdachte Lebenslauf schlüssig war, ließen sich diese Undercover-Einsätze mental durchstehen. Und zur perfekten Legende gehörte es, nach den ersten Drehs nicht mehr alleine loszuziehen. Denn wer Hunderte Kilometer weit zu einem Konzert fährt, lädt sich das Auto bis unters Dach mit Kameraden voll, um sich die Spritkosten teilen zu können – wer alleine am konspirativen Treffpunkt ankommt, fällt auf. Ich musste folglich Kollegen finden, die mit mir Kopf und Kragen riskierten. Zudem fuhr ich ab und zu mit Nazis, obwohl das mit logistischen Schwierigkeiten verbunden war. Schließlich musste ich unbeobachtet sein, wenn ich die Ausrüstung vollends anbringen und einschalten wollte. Die Wahl fiel in der Regel auf eine Autobahntoilette. Eine weitere Herausforderung: In einer Fahrgemeinschaft: war die persönliche Nähe nicht zu vermeiden – im Laufe des Abends musste ich zu den Kameraden jedoch auf Distanz gehen. Erstens, damit ich mich ihnen nicht zu sehr einprägte. Und zweitens, damit sie mir nach Fernsehbeiträgen nicht aufgrund der Kameraperspektive auf die Spur kommen würden.
Trotz 200-prozentiger Vorbereitung durchlebte ich vor jedem Dreh eine Phase, in der ich am liebsten alles abgeblasen hätte. Warum noch einmal dieses Risiko eingehen? Das ist die Frage, die ich mir gefühlte hunderttausend Mal gestellt habe und auf die ich keine Antwort gefunden habe, die mir in diesen Situationen weitergeholfen hätte. Ich musste dann versuchen, in meine Rechercherolle hineinzufinden und das Gefühl der Angst mit dem Lebensgefühl der Nazis zu verdrängen. Das gelang mir weitgehend, indem ich mir spätestens auf der Anfahrt ohrenbetäubende Nazi-Mucke reingezogen habe. Die emotionale Ebene der Musik, die ihre jungen Hörer für die Botschaften der politischen Texte empfänglich machen soll, habe ich psychologisch für mein Rollenspiel genutzt. Genauso | 14 | Springerstiefel und Bomberjacke, die nicht nur anders aussehen als Turnschuhe und Anorak, sondern sich auch anders anfühlen: Die Schritte werden größer, die Arme schwingen breiter neben dem Körper – der Gang wirkt entschlossener, das Gesamtbild martialisch.
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