Blut - Skeleton Crew
einem Auto überfahren? Ist er aus einem Fenster gesprungen? Was?«
Mr. Carlin kicherte ein hilfloses kurzes Kichern. »Sie sollten es besser wissen, Spangler. Haben Sie mir nicht zweimal erklärt, dass Sie mit der Geschichte des DeIver-Spiegels … äh … bestens vertraut sind? Es gab keine schrecklichen Folgen. Es hat nie welche gegeben. Deshalb taucht der DeIver-Spiegel auch nie in den Sonntagsbeilagen auf wie der Kooh-i-Nor-Diamant oder der Fluch des Tut-ench-Amun. Verglichen damit ist er langweilig. Sie halten mich für einen Narren, richtig?«
»Ja«, sagte Spangler.
»Können wir jetzt raufgehen?«
»Selbstverständlich«, sagte Mr. Carlin leidenschaftslos. Er stieg die Leiter hoch und stieß die Falltür hoch. Diese gab ein rasselndes Poltern von sich, als sie von Gegengewichten hochgezogen wurde. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Der blinde Adonis sah ihnen unwissentlich nach.
Der Giebelraum war fürchterlich heiß, Licht fiel nur durch ein spinnwebverhangenes, vieleckiges Fenster ein, das das grelle Licht von draußen zu einem schmutzigen, milchigen Zwielicht filterte. Der Spiegel stand schräg zum Fenster, fing den größten Teil des einfallenden Lichtes ein und warf eine perlmuttfarbene Spiegelung auf die gegenüberliegende Wand. Er war fest mit einem Holzrahmen verschraubt. Mr. Carlin sah nicht hin. Er sah absichtlich nicht hin.
»Sie haben ihn nicht einmal mit einem Tuch abgedeckt«, sagte Spangler, zum ersten Mal sichtlich verärgert.
»Ich betrachte ihn als eine Art Auge«, sagte Mr. Carlin. Seine Stimme klang immer noch hohl, tonlos. »Wenn er offen bleibt, wird er vielleicht blind.«
Spangler schenkte ihm keine Beachtung. Er zog sein Jackett aus, faltete die Knöpfe sorgsam nach innen und wischte mit unendlicher Behutsamkeit den Staub von der konvexen Oberfläche des Spiegels. Dann trat er zurück und betrachtete ihn.
Er war echt. Daran bestand kein Zweifel, hatte nie einer bestanden. Er war ein perfektes Beispiel von DeIvers Genialität. Der vollgestopfte Raum hinter ihm, sein eigenes Spiegelbild, Carlins halb abgewandte Gestalt – alles war klar, scharf, fast dreidimensional. Der schwache Vergrößerungseffekt des Glases verlieh allem eine leichte Wölbung, die eine fast vierdimensionale Verzerrung hervorrief. Es war …
Seine Gedankengänge brachen ab, er verspürte eine neue Zorneswelle.
»Carlin!«
Carlin sagte nichts.
»Carlin, Sie verdammter Narr, Sie haben doch gesagt, dass die Frau den Spiegel nicht beschädigt hat!«
Keine Antwort.
Spangler warf ihm im Spiegel einen eiskalten Blick zu.
»In der oberen linken Ecke ist ein Stück Isolierband. Hat sie ihn zerbrochen? Um Gottes willen, Mann, reden Sie endlich!«
»Sie sehen den Sensenmann«, sagte Carlin. Seine Stimme war tot und leidenschaftslos. »Auf dem Spiegel ist kein Isolierband. Streichen Sie mit dem Finger darüber … o Gott.«
Spangler wickelte einen Ärmel seines Mantels um die Hand und drückte vorsichtig auf den Spiegel. »Sehen Sie? Nichts Übernatürliches. Es ist verschwunden. Meine Hand bedeckt es.«
»Bedeckt es? Können Sie das Band spüren? Warum ziehen Sie es nicht ab?«
Spangler zog behutsam die Hand zurück und sah in den Spiegel. Alles darin schien noch verzerrter zu sein; die schiefen Winkel des Zimmers schienen wie verrückt zu schwanken, so als würden sie gleich in unsichtbare Ewigkeiten entgleiten. Da war kein dunkler Fleck auf dem Spiegel. Er war makellos. Spangler spürte, wie eine unheilvolle Angst von ihm Besitz ergriff und verachtete sich dafür.
»Es hat doch so ausgesehen, oder?«, fragte Mr. Carlin. Sein Gesicht war totenblass und er sah starr auf den Boden. Ein Halsmuskel zuckte krampfhaft. »Geben Sie es zu, Spangler! Es hat ausgesehen wie eine Gestalt mit Kapuze hinter Ihnen, richtig?«
»Es hat ausgesehen wie Isolierband, das einen Sprung verdecken soll«, sagte Spangler nachdrücklich. »Nicht mehr und nicht weniger …«
»Der junge Bates war ein kräftiger Bursche«, sagte Carlin hastig. Seine Worte fielen in die heiße, geladene Stille wie Steine in dunkles Wasser. »Wie ein Footballspieler. Er trug einen Pullover mit den Initialen seiner Studentenschaft und eine dunkelgrüne Baumwollhose. Wir waren auf halbem Weg zu den oberen Ausstellungsräumen …«
»Diese Hitze macht mich krank«, sagte Spangler etwas unsicher. Er hatte ein Taschentuch herausgeholt und wischte sich den Nacken ab. Seine Blicke zuckten immer wieder nervös zur Oberfläche des
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