Blut - Skeleton Crew
Spiegels.
»… als er sagte, er wolle einen Schluck Wasser … einen Schluck Wasser, um Gottes willen!«
Carlin drehte sich um und sah Spangler wild an. »Woher hätte ich es wissen sollen? Woher hätte ich es wissen sollen?«
»Gibt es hier eine Toilette? Ich glaube, ich muss mich …«
»Sein Pullover … ich konnte gerade noch seinen Pullover sehen, als er die Treppe hinunterlief … dann …«
»… mich übergeben.«
Carlin schüttelte den Kopf, so als wollte er ihn klären und sah wieder auf den Boden. »Natürlich. Dritte Tür links, erster Stock, Richtung Treppe.« Er sah flehentlich auf. »Woher hätte ich es wissen sollen?«
Aber Spangler war schon auf die Leiter gestiegen. Sie schwankte unter seinem Gesicht und einen Augenblick dachte – hoffte – Carlin, er würde fallen. Aber er fiel nicht. Durch das offene Quadrat im Fußboden sah Carlin ihn hinabsteigen, eine Hand fest auf den Mund gedrückt.
»Spangler …?«
Aber er war schon weg.
Carlin hörte, wie Spanglers Schritte zu Echos verhallten und schließlich ganz verstummten. Als sie verstummt waren, zitterte er am ganzen Leibe. Er versuchte, selbst zur Treppe zu gehen, war aber erstarrt. Der letzte flüchtige Blick auf den Pullover des Jungen … O Gott! …
Es war, als würden riesige, unsichtbare Hände seinen Kopf nach oben drücken. Ohne es zu wollen sah Carlin in die schimmernden Tiefen des DeIver-Spiegels.
Da war nichts.
Das Zimmer wurde wirklichkeitsgetreu gespiegelt; die staubigen Wände in schimmernde Unendlichkeit vervielfacht. Ein Bruchstück eines halbvergessenen Gedichts von Tennyson fiel ihm ein, und er murmelte es laut: »›Die Schatten machen mich ganz krank‹, sprach die Lady von Shalott …«
Und immer noch konnte er nicht wegsehen, und die atmende Stille hielt ihn im Bann. Hinter einer Ecke des Spiegels sah ihn ein mottenzerfressener Büffelkopf mit leblosen Obsidianaugen an.
Der Junge hatte einen Schluck Wasser trinken wollen, und der Trinkbrunnen befand sich in der Diele im Erdgeschoss. Er war nach unten gegangen und …
Und war nie zurückgekommen.
Niemals.
Nirgendwohin.
Wie die Herzogin, die zögerte, nachdem sie sich vor dem Spiegel für eine Soirée herausgeputzt hatte, und beschloss, noch einmal in den Salon zu gehen und ihre Perlen zu holen. Wie der Teppichhändler, der eine Kutschfahrt unternommen und nur eine leere Kutsche und zwei stumme Pferde hinterlassen hatte.
Und der DeIver-Spiegel war von 1897 bis 1920 in New York gewesen, war dort gewesen, als Richter Carter …
Carlin starrte wie hypnotisiert in die flachen Tiefen des Spiegels. Unten hielt der blinde Adonis Wache.
Er wartete auf Spangler, wie die Familie Bates auf ihren Sohn gewartet haben musste, wie der Mann der Herzogin gewartet haben musste, bis seine Frau aus dem Salon zurückkam.
Er sah in den Spiegel und wartete.
Und wartete.
Und wartete.
Nona
Liebst du?
Ich höre ihre Stimme, die das sagt – manchmal höre ich sie noch. In meinen Träumen.
Liebst du?
Ja, antworte ich. Ja – und wahre Liebe wird niemals enden.
Dann wache ich schreiend auf.
Ich weiß auch heute noch nicht, wie ich es erklären soll. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum ich das alles getan habe. Ich konnte es auch beim Prozess nicht. Und hier sind eine Menge Leute, die mich danach fragen. Beispielsweise ein Psychiater. Aber ich schweige. Meine Lippen sind versiegelt. Außer hier, in meiner Zelle. Hier schweige ich nicht. Ich wache schreiend auf.
Im Traum sehe ich sie auf mich zukommen. Sie trägt ein weißes, fast durchsichtiges Kleid, und ihr Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Begierde und Triumph. Sie nähert sich mir in einem dunklen Raum mit Steinfußboden, und ich nehme den Geruch vermoderter Oktoberrosen wahr. sie breitet die Arme aus, und auch ich, während ich auf sie zugehe, um sie zu umarmen.
Ich verspüre Angst, Widerwillen, unsagbare Begierde. Angst und Widerwillen, weil ich weiß, wo ich mich befinde; Begierde, weil ich sie liebe. Ich werde sie immer lieben. Manchmal wünsche ich mir, es gäbe in diesem Staat noch die Todesstrafe. Ein kurzer Weg durch einen dunklen Korridor, ein Stuhl mit gerader Lehne und mit einer Schädelkappe aus Stahl, Klammern … ein kurzer Stromstoß und ich wäre mit ihr vereint.
Wenn wir uns im Traum begegnen, wächst meine Angst, aber es ist mir unmöglich, mich ihr zu entziehen. Meine Hände drücken auf die glatte Fläche ihres Rückens, ihre Haut direkt unter der dünnen Seide. Sie
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