Blut - Skeleton Crew
hatte, der ihr einmal alle Schulbücher aus den Armen in den Dreck gestoßen hatte (aber sie hatte sich die Tränen verkniffen). Jetzt waren sowohl Annabelle als auch Tommy tot, und von ihren sieben Kindern lebte nur noch Sarah auf der Insel. Ihr Mann, George Havelock, den alle nur Big George genannt hatten, war 1967 drüben auf dem Festland eines grässlichen Todes gestorben, in dem Jahr als nicht gefischt wurde. Big George war die Axt ausgerutscht, es hatte Blut gegeben – zu viel Blut! – und drei Tage später eine Insel-Bestattung. Und als Sarah zu Stellas Geburtstagsfeier kam und weinend »Herzlichen Glückwunsch, Oma!«, rief, nahm Stella sie fest in die Arme und schloss die Augen.
(liebst du?)
aber sie weinte nicht.
Es gab einen riesigen Geburtstagskuchen. Hattie hatte ihn zusammen mit ihrer besten Freundin, Vera Spruce, gebacken. Die ganze Gesellschaft sang so laut »Happy Birthday to You«, dass sie sogar den Wind übertönte … zumindest für kurze Zeit. Sogar Alden sang mit, obwohl er normalerweise nur »Onward Christian Soldiers« und die Doxologie in der Kirche sang und ansonsten nur die Lippen bewegte, mit gesenktem Kopf und Segelfliegerohren so rot wie Tomaten. Auf Stellas Kuchen brannten fünfundneunzig Kerzen, und trotz des Singens hörte sie den Wind, obwohl ihr Gehör nicht mehr so gut wie früher war.
Sie dachte der Wind riefe ihren Namen.
»Ich war nicht die Einzige«, hätte sie Lois’ Kindern erzählt, wenn sie gekonnt hätte. »Zu meiner Zeit gab es viele, die auf der Insel lebten und starben. Damals gab es noch kein Postboot; Bull Symes brachte die Post mit, wenn es Post gab. Es gab auch keine Fähre. Wenn man auf Head etwas zu erledigen hatte, brachte der Ehemann einen mit dem Hummerfangboot hin. Wenn ich mich recht erinnere, gab es bis 1946 auf der Insel kein Wasserklosett. Es war Bulls Sohn Harold, der das erste einbauen ließ, ein Jahr, nachdem Bull beim Netzeauslegen an einem Herzschlag gestorben war. Ich erinnere mich noch daran, wie sie Bull nach Hause trugen. Ich erinnere mich daran, dass sie ihn in eine Plane gehüllt rauftrugen und dass einer seiner grünen Stiefel herausragte. Ich erinnere mich …«
Und die Kinder hätten gefragt: »Woran, Oma? Woran erinnerst du dich?«
Was hätte sie ihnen geantwortet? War da noch mehr?
Am ersten Wintertag, etwa einen Monat nach der Geburtstagsfeier, öffnete Stella die Haustür, um Brennholz zu holen, und entdeckte auf der Veranda einen toten Sperling. Sie bückte sich schwerfällig, hob ihn an einem Bein hoch und betrachtete ihn.
»Erfroren«, murmelte sie, und etwas in ihrem tiefsten Innern sagte ein anderes Wort. Es war vierzig Jahre her, seit sie einen erfrorenen Vogel gesehen hatte – 1938. In jenem Jahr, als die Meerenge zugefroren war.
Sie schauderte, hüllte sich fester in ihren Mantel und warf den toten Sperling im Vorbeigehen in den alten rostigen Verbrennungsofen. Es war ein kalter Tag. Der Himmel war klar und tiefblau. Am Abend ihres Geburtstages waren acht Zentimeter Schnee gefallen, getaut, und seitdem hatte es nicht mehr geschneit. »Jetzt wär’s aber langsam Zeit«, sagte Larry McKeen vom Goat Island Store weise, als wollte er den Winter herausfordern, doch fernzubleiben.
Am Holzstapel angelangt, nahm Stella sich einen Armvoll Scheite und trug sie zum Haus. Ihr klar umrissener Schatten folgte ihr.
Als sie die Hintertür erreichte, wo der Vogel gelegen hatte, sprach plötzlich Bill zu ihr – aber der Krebs hatte Bill vor zwölf Jahren dahingerafft. »Stella«, sagte Bill, und sie sah seinen Schatten neben sie fallen, länger als ihr eigener, aber ebenso scharf umrissen, der Schirm seiner Mütze war fröhlich seitwärts gedreht, wie er es immer machte. Stella spürte, wie ihr ein Schrei im Hals steckenblieb. Er war zu gewaltig, um ihr über die Lippen zu kommen.
»Stella«, sagte er wieder. »Wann kommst du rüber zum Festland? Wir holen uns Norm Jolleys alten Ford und fahren nur so zum Spaß zu Bean’s in Freeport. Was meinst du?«
Sie drehte sich um und hätte dabei fast ihr Holz fallen gelassen – niemand war da. Nur der Hinterhof erstreckte sich hügelabwärts, unten war die wilde weiße Grasfläche und dahinter, ganz am Ende, lag klar umrissen und irgendwie prachtvoll die Meerenge … und dahinter das Festland.
»Oma, was ist eigentlich eine Meerenge?«, hätte Lona sie fragen können … obwohl sie es nie getan hatte. Und Stella hätte ihr die Antwort gegeben, die jeder Fischer
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