Blut - Skeleton Crew
auswendig hersagen konnte: Eine Meerenge ist ein Wasserstreifen zwischen Land auf zwei Seiten, ein Wasserstreifen, der an beiden Seiten offen ist. Es gab einen alten Witz der Hummerfänger, der so ging: Wisst ihr, was es bringt, Jungs, bei dichtem Nebel den Kompass abzulesen? Man stellt dabei fest, dass zwischen Jonesport und London eine mächtig breite Meerenge verläuft.
»Meerenge – das ist das Wasser zwischen der Insel und dem Festland«, hätte sie näher ausführen können, während sie ihnen Sirupkuchen und heißen Tee mit Zucker gab. »Soviel weiß ich genau. Das weiß ich so gut wie den Namen meines Mannes … und wie er seine Mütze aufzusetzen pflegte.«
»Oma?«, hätte Lona weiterfragen können. »Wie kommt es, dass du nie auf der anderen Seite der Meerenge gewesen bist?«
»Liebling«, hätte sie dann geantwortet. »Ich habe nie einen Grund dafür gehabt.«
Im Januar, zwei Monate nach der Geburtstagsfeier, fror die Meerenge zum ersten Mal seit 1938 zu. Über den Rundfunk wurden Insel- und Festlandbewohner gewarnt, dem Eis nicht zu trauen, aber Stewie McClelland und Russell Bowie holten nach einem langen Nachmittag, den sie mit Apfelweintrinken verbracht hatten, trotzdem Stewies großes Schneemobil raus, und natürlich brach es im Eis ein. Stewie gelang es, das Ufer zu erreichen (obwohl ihm dabei ein Fuß abfror). Doch Russell Bowie verschlang die Meerenge und trug ihn davon.
Am 25. Januar fand ein Gedächtnisgottesdienst für Russell statt. Stella ging am Arm ihres Sohnes Alden, und er formte lautlos die Worte der Hymnen und brummte kräftig mit seiner misstönenden Stimme die Doxologie vor dem Segen. Danach saß Stella mit Sarah Havelock und Hattie Stoddard und Vera Spruce im Schein des Holzfeuers im Untergeschoss der Gemeindehalle. Ein Leichenschmaus fand für Russell statt, bei dem es Za-Rex-Punsch und hübsche kleine dreieckige Käsesandwiches gab. Die Männer gingen natürlich öfter hinaus, um etwas Stärkeres als Za-Rex zu kippen. Russell Bowies Witwe saß wie betäubt mit roten Augen neben Ewell McCracken, dem Geistlichen. Sie war im siebenten Monat schwanger – es würde ihr fünftes Kind sein –, und Stella, die in der Wärme des Holzofens halb vor sich hindöste, dachte: Sie wird die Meerenge schon bald überqueren, nehme ich an. Vermutlich wird sie nach Freeport oder Lewiston ziehen und dort als Kellnerin arbeiten, nehme ich an.
Sie wandte sich wieder Vera und Hattie zu, um zu hören, worüber gerade geredet wurde.
»Nein, ich hab’s nicht gehört«, sagte Hattie. »Was hat Freddy denn gesagt?«
Sie sprachen von Freddy Dinsmore, dem ältesten Mann auf der Insel (aber zwei Jahre jünger als ich, dachte Stella befriedigt), der 1960 seinen Laden an Larry McKeen verkauft hatte und jetzt im Ruhestand war.
»Er hat gesagt, er hätte so ’nen Winter noch nie erlebt«, sagte Vera und holte ihr Strickzeug hervor. »Er sagt, dieser Winter würde die Leute krank machen.«
Sarah Havelock sah Stella an und fragte, ob sie schon einmal so einen Winter erlebt hätte. Bisher war kaum Schnee gefallen; die Erde war nackt und braun und gefroren. Tags zuvor war Stella etwa 30 Schritte übers hintere Feld gegangen und hatte ihre rechte Hand in Oberschenkelhöhe waagrecht gehalten, und mit einem Geräusch wie von zerbrechendem Glas war das Gras abgeknickt.
»Nein«, sagte Stella. »Die Meerenge ist 1938 schon einmal zugefroren, aber damals gab es Schnee. Erinnerst du dich noch an Bull Symes, Hattie?«
Hattie lachte. »Ich glaub ich hab immer noch die blauen Flecken von der Neujahrsnacht 1953, als er mir auf meinen Allerwertesten geschlagen hat. Er hat so fest zugeschlagen. Was war mit ihm?«
»Bull und mein Mann haben in dem Jahr einen Ausflug aufs Festland gemacht«, sagte Stella. »Im Februar 1938 war das. Sie sind auf Schneeschuhen bis Dorrit’s Taverne auf Raccoon Head gelaufen, haben dort jeder einen Whisky getrunken und sind dann wieder zurückgekommen. Sie wollten, dass ich mitgehe. Sie waren wie zwei kleine Jungs, die sich aufs Schlittenfahren freuen.«
Sie sahen Stella an, tief bewegt von diesem Wunder. Sogar Vera sah sie mit großen Augen an, und Vera hatte die Geschichte bestimmt früher schon gehört. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte, hatten Bull und Vera einmal was miteinander gehabt, obwohl es, wie sie jetzt aussah, schwerfiel zu glauben, dass sie jemals so jung gewesen war.
»Und du bist nicht mitgegangen?«, fragte Sarah, die vielleicht die weite
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