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Blut - Skeleton Crew

Blut - Skeleton Crew

Titel: Blut - Skeleton Crew Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Fläche der Meerenge vor ihrem geistigen Auge sah, so weiß, dass sie in der kalten Wintersonne bläulich schimmerte, das Funkeln der Schneekristalle, das näher rückende Festland, hinübergehen, ja, über das Meer zu wandeln wie Jesus über den See, die Insel einmal, ein einziges Mal im Leben zu Fuß verlassen …
    »Nein«, sagte Stella. Sie wünschte mit einem Mal, sie hätte auch ihr Strickzeug mitgebracht. »Ich bin nicht mitgegangen.«
    »Warum denn nicht? «, fragte Hattie fast entrüstet.
    »Es war Waschtag«, antwortete Stella ziemlich barsch, und dann brach Missy Bowie, Russells Witwe, in lautes Schluchzen aus. Stella blickte hinüber, und da saß Bill Flanders in seiner rot-schwarz-karierten Jacke, die Mütze schief auf dem Kopf, und rauchte eine Herbert Tareyton, während er sich eine zweite für später hinters Ohr gesteckt hatte. Einen Moment lang stand ihr fast das Herz still.
    Sie stöhnte leise, aber genau in diesem Augenblick zerbarst ein Knorren im Ofen mit einem Geräusch wie ein Gewehrschuss, und keine ihrer Freundinnen hörte ihr Stöhnen.
    »Armes Ding«, sagte Sarah fast zärtlich.
    »Sie sollte froh sein, diesen Taugenichts los zu sein«, knurrte Hattie. Sie suchte nach den richtigen Worten, um den verstorbenen Russell Bowie zu charakterisieren und drückte die bittere Wahrheit schließlich folgendermaßen aus: »Der Mann war doch im Grunde genommen ein richtiger Luftikus und Liederjahn. Keine Träne würde ich dem Kerl nachweinen.«
    Stella hörte kaum hin. Da saß Bill, so dicht neben Reverend McCracken, dass er ihn ohne weiteres hätte in die Nase zwicken können, wenn er gewollt hätte; er sah nicht älter als vierzig aus; die Krähenfüße um seine Augen herum, die sich später so tief eingegraben hatten, waren kaum zu sehen, und er trug seine Flanellhose, seine Gummistiefel und darunter die grauen Wollsocken, die sorgfältig um die Stiefelschäfte umgeschlagen waren.
    »Wir warten auf dich, Stel«, sagte er. »Du musst rüberkommen und dir das Festland ansehen. Dieses Jahr wirst du nicht mal Schneeschuhe brauchen.«
    Da saß er in der Gemeindehalle, so groß wie ein Bär und dann explodierte wieder ein Knorren im Ofen, und er war verschwunden. Und Reverend McCracken fuhr fort, Missy Bowie zu trösten, so als wäre nichts geschehen.
    An dem Abend rief Vera Annie Phillips an und erwähnte im Laufe des Gesprächs, dass Stella Flanders nicht gut aussah, gar nicht gut aussah.
    »Alden hätte bestimmt einen ganz schönen Kampf auszufechten, um sie von der Insel wegzubringen, wenn sie krank werden würde«, sagte Annie. Annie mochte Alden, weil ihr eigener Sohn Toby ihr erzählt hatte, dass Alden nichts Stärkeres als Bier trank. Annie selbst war strikte Antialkoholikerin.
    »Er würde sie überhaupt nicht wegkriegen, höchstens im Koma«, sagte Vera, die es wie im Süden üblich aussprach: Kouma. »Alden tanzt nach Stellas Pfeife. Weißt du, mit Aldens Verstand ist’s ja nicht allzuweit her. Stella sagt ihm immer, was er zu tun hat.«
    »Oh, ja?«
    In diesem Moment setzte ein metallisches Knacken in der Leitung ein. Sekundenlang konnte Vera Annie Phillips noch hören – nicht die Worte, nur die Stimme im Hintergrund des Knackens –, und dann war die Leitung tot. Ein besonders heftiger Windstoß hatte die Telefonkabel runtergefegt, vielleicht in den Godlin’s Pond, vielleicht auch unten bei Borrows Cove, wo sie mit Gummistiefeln in die Meerenge wateten. Möglicherweise waren sie auch auf der anderen Seite der Meerenge, auf Raccoon Head, runtergekommen … und manche Leute sagten vielleicht sogar (und das nur halb im Scherz), dass Russell Bowie eine kalte Hand emporgereckt und das Kabel heruntergerissen hatte, um den Inselbewohnern einen Streich zu spielen.
     
    Keine zweihundert Meter entfernt lag Stella Flanders unter ihrer Steppdecke und lauschte Aldens Schnarchkonzert im Nebenzimmer. Sie lauschte Alden, um nicht dem Wind lauschen zu müssen … aber sie hörte den Wind trotzdem, o ja; er fegte über die gefrorene Fläche der Meerenge, anderthalb Meilen Wasser, das jetzt mit Eis überzogen war, Eis, unter dem sich Hummer und Barsche verbargen, und vielleicht auch die gespenstisch tanzende Leiche von Russell Bowie, der jedes Jahr im April mit seiner alten Motorfräse Marke Rogers gekommen war und ihren Garten umgegraben hatte.
    Wer wird ihn diesen April umgraben?, fragte sie sich, während sie zusammengerollt und fröstelnd unter der Steppdecke lag. Und wie im Traum, in einem anderen

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