Blut und Silber
ein Lichtstrahl durch die Ritzen des Gebälks dringen und den Gefangenen zeigen würde, wo genau er stand.
Wenig später hörte er direkt über sich eine gedämpfte, ungläubig klingende Stimme. »Markus?«
»Ja. Hört zu, die Balken an dieser Stelle sind nur lose aufgelegt. Tretet beiseite und versucht, sie wegzuräumen. Ich drücke dagegen.«
Mit aller Kraft stemmte er seine Schulter gegen einen Balken, der sich mit einem Ruck nach oben drücken ließ. Strohreste rieselten auf ihn herab. Rasch zog Jan das Talglicht fort, das sein Bruder beiseitegestellt hatte, damit die Halme nicht Feuer fingen.
Ein paar von oben und unten geraunte Kommandos, und bald waren drei der Balken weggeräumt.
Markus hangelte sich hinauf ins Verlies. Er ließ sich das Licht hochreichen, zog den Schlüssel aus dem Almosenbeutel, den er noch aus den Zeiten besaß, als er die Burgwache kommandierte, und begann, die Schellen zu lösen, mit denen seine einstigen Kameraden an die Mauern des Bergfrieds gekettet waren.
»Wir hatten ja gehofft, dass du dich mit irgendeiner tollkühnen Aktion hierher durchkämpfst, Hauptmann«, sagte Gero, der am Vortag noch im Käfig auf dem Hof eingesperrt war, fassungslos vor Staunen und Freude. »Aber dass du dich von unten durchgräbst …« Tränen liefen dem jungen Bogenschützen übers Gesicht.
Nicht anders erging es den meisten seiner Leidensgefährten. Sie umringten Markus, jeder wollte ihm auf die Schulter klopfen, und kaum einer konnte die Tränen zurückhalten. Auch Markus hatte Mühe, seine Gefühle zu beherrschen – weniger aus Freude darüber, dass der Plan bis hierher aufgegangen war, sondern angesichts des Zustandes seiner Männer nach anderthalb Jahren Kerker. Bis zur Unkenntlichkeit abgemagert waren sie alle, bei den meisten konnte er selbst in dem schwachen Licht Spuren der Folter erkennen.
»Wir müssen uns beeilen!«, drängte er.
Schon ließen sich die Ersten durch den Spalt hinab. »Wann kommen die Wachen? Wie und wie oft untersuchen sie das Verlies?«, fragte er die Übrigen.
»Eigentlich nur, wenn sie zum Zeitvertreib ein paar von uns quälen wollen«, erklärte einer. »Brot und den Wassereimer lassen sie durch die Luke runter. Wieso willst du das wissen?«
Markus gab keine Antwort, sondern half dem Nächsten, sich nach unten zu hangeln. Die Gefangenen waren so geschwächt, dass manchem dafür allein die Kraft fehlte.
Er wusste, dass sie unten in Empfang genommen und von den anderen sicher zu einem untertägigen Versteck geleitet wurden. Nach der mysteriösen Flucht von einem Dutzend schwer bewachter Geiseln würde in der Stadt das Unterste zuoberst gekehrt werden. Deshalb wäre es zu riskant, sich in einem der Häuser zu verstecken. Und nach vielen Monaten im Verlies kam es für die Befreiten auf ein paar Tage mehr im Dunkeln nicht an, wenn sie nur in Sicherheit waren.
Als alle Geiseln in die Tiefe verschwunden waren, stemmte sich Jan hoch ins Verlies zu seinem Bruder. Hinter ihm wurden das Talglicht, Markus’ Schwert, ein dunkles Bündel und ein Eimer Wasser nach oben gereicht.
»Du willst das wirklich riskieren?«, fragte Jan zweifelnd. »Mir wäre wohler, du kämst mit uns. Ich will mir nicht noch einmal Sorgen um dich machen müssen.«
Und was würde wohl erst Änne sagen, wenn sie wüsste, was ich vorhabe?, dachte Markus mit einem Anflug schlechten Gewissens.
»Wir müssen mit Vergeltungsaktionen in der Stadt rechnen«, entgegnete er. »Vielleicht nehmen sie willkürlich neue Geiseln. Und weil sein kann, dass wir dann wieder einen Fluchtweg brauchen, will ich Christians Pfad nach Möglichkeit unentdeckt lassen.«
Er legte seinem Bruder aufmunternd den Arm auf die Schulter. »Bete für mich. Es wird schon alles gutgehen!«
Dann entknotete er das Bündel und nahm den königlichen Wappenrock heraus, den er schon bei seinem kurzen Erkundungsgang auf der Burg getragen hatte. Er tauchte die Hände in den Eimer, wusch sich den Staub vom Gesicht und zog sich um.
Im Kerzenlicht überprüfte Jan, ob der Schmutz beseitigt war und alles richtig saß.
Bevor sein Bruder ging, hielt Markus ihn zurück und kramte in seinem Almosenbeutel. Verblüfft starrte der Jüngere auf das dreibeinige Holzpferd.
»Mein altes Spielzeug! … ihm fehlt auch eine Hand«, murmelte Jan betreten.
»Ich hatte es von zu Hause mitgenommen, bevor ich Freiberg verließ«, erklärte Markus und drückte es seinem Bruder in die Finger.
»Gott schütze dich!«, gab er dem Jüngeren mit auf den Weg
Weitere Kostenlose Bücher