Blut Von Deinem Blute
einmal gehört hatte. In einem Film vielleicht oder in einem Theaterstück. Dass er ihr ausgerechnet jetzt wieder einfiel, schrieb sie der Aufregung zu. Wenn der Stress übermächtig wurde, durchforstete der Verstand das Gedächtnis nur allzu gern nach alten Sätzen, Zitaten oder Gedichtzeilen, nur, um sich nicht länger auf die bedrängende Gegenwart konzentrieren zu müssen. Ein ganz simpler Mechanismus. Eine ganz simple Erklärung.
Und doch ...
Irgendetwas an diesem Satz machte ihr Angst.
Sie kam nach Hause, um zu sterben.
Ihre Stiefmutter war an einem regnerischen Nachmittag in dieses Haus gekommen, um es nie wieder zu verlassen. Und Mia hatte dort am Fenster gestanden und ihr entgegengeblickt ...
Laura schluckte. Dann griff sie nach ihrem Koffer und stieg die drei Stufen zur Haustür hinauf. Die Sonne stand schon tief.
6
Der Duft von frischen Äpfeln erfüllt die Küche, und die Fenster sind ganz beschlagen vor Hitze und Dunst.
Ich stehe an der Arbeitsplatte neben der Spüle und rolle die Kohlblätter für die Cabbage Loafs, das Leibgericht meines Vaters. Nachdem er über ein halbes Jahr fort war, hat er gestern Nachmittag angerufen und gesagt, dass er heute wieder nach Hause komme, und, Mia ist daraufhin in der Halle herumgesprungen wie eine Verrückte.
Jetzt steht sie drüben im Salon am offenen Fenster und wartet, obwohl der Flieger aus Paris erst in einer knappen Stunde landet. Doch sie besteht darauf, dort am Fenster zu stehen und Ausschau zu halten. Der böige Westwind treibt Regen herein, aber das ist ihr egal. Ebenso wie die Tatsache, dass Tante Cora sie bereits mehrfach aufgefordert hat, ihr bei der Zubereitung des Apfelstrudels zu helfen, den es zum Nachtisch geben soll. Aber meine Schwester und helfen? Keine Chance!
Stattdessen höre ich sie pfeifen, ein Geräusch, das mir durch Mark und Bein geht.
»Freust du dich?«, fragt Tante Cora hinter mir, und ich sage »Ja«, obwohl ich »Nein« meine.
Gegen halb vier klingelt es, und Ryan und Ginny stehen in der Diele. Ginny trägt ein weißes Sommerkleid mit Spitze und dazu Pumps, was ich angesichts des schlechten Wetters für völlig übertrieben halte. Aber wahrscheinlich denkt sie, dass sie sich so aufbrezeln muss. Immerhin kehrt der »Kolonialherr« zurück. Ryan hält einen Riesenstrauß Blumen in der Hand – gekaufte, nicht etwa welche aus dem Garten! –, und ich denke, dass mein Vater unter Garantie einen Anfall bekommt, wenn er sieht, wie sein Geschäftsführer das Geld zum Fenster raus wirft.
Irgendwo schlägt eine Uhr.
Und dann hören wir auf einmal Vaters kraftvollen Schritt auf den Stufen vor der Haustür.
Ich warte darauf, dass Mia aus dem Salon gestürzt kommt, um ihm in die Arme zufliegen, aber sie kommt nicht. Stattdessen geht die Haustür auf, und mein Vater tritt in die dunkle Halle. An seiner Seite nehme ich den Schatten einer zweiten Person wahr, der sich gegen das fahle Licht der Türöffnung abzeichnet. Eine robuste Statur, breitschultrig und nicht allzu groß gewachsen. Der Schatten verharrt auf der Schwelle, während mein Vater mit der ihm eigenen Energie auf mich zukommt. Unterwegs stellt er die beiden Koffer, die an seinen Armen wie schwerelos hereingeschwebt sind, auf dem blitzsauberen Steinboden ab. Einen Moment lang fürchte ich, dass er mich umarmen will, aber als er schließlich vor mir steht, streckt er mir einfach nur die Hand hin.
Und obwohl ich zutiefst erleichtert bin, merke ich, wie ich lachen muss. Über die Förmlichkeit dieser Geste. Über den Schatten in seinem Rücken. Über die ganze groteske Situation.
»Wer ist das?«, fragt Mia, die endlich aus dem Salon gekommen ist, und in ihrer Stimme liegt etwas, das ich nicht einordnen kann.
Unser Vater lässt meine Hand los und dreht sich zu dem Schatten in seinem Rücken um, der noch immer genau dort ausharrt, wo er ihn zurückgelassen hat. »Warum kommst du denn nicht weiter?«, sagt er mit einem Anflug von Ungeduld.
»Wer ist das?«, fragt Mia noch einmal, und dieses Mal ist auch der letzte Rest von Weichheit aus ihrer Stimme verschwunden.
Vater sieht Tante Cora an und dann wieder mich. Es ist ziemlich offensichtlich, dass er sich die äußeren Umstände seiner Eröffnung irgendwie anders vorgestellt hat, aber jetzt liegen die Dinge nun einmal so, wie sie liegen, und er entscheidet sich dafür, in die Offensive zu gehen. »Das«, sagt er, »ist meine Frau.«
Ich fühle mich, als ob ich in einen Bottich mit Eiswasser getaucht werde, und suche
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