Blut Von Deinem Blute
sich noch einmal nach ihm umzublicken.
Bereits nach wenigen Metern bereute sie es bitter, zu ihrem Hosenanzug ein T-Shirt mit langen Ärmeln gewählt zu haben. Aber zu Hause in Frankfurt regnete es seit Tagen fast ununterbrochen, und die Temperaturen hatten sich auf frühherbstliche Werte um zwölf Grad eingependelt. Laura bedachte die Dattelpalmen auf der anderen Straßenseite mit einem ironischen Blick. Natürlich hätte sie ihren Blazer genauso gut ausziehen und über den Arm nehmen können, aber sie wollte keine Zeit verlieren. Sie wollte es einfach nur hinter sich bringen.
Durch die Lücke zwischen zwei Häusern konnte sie in die Bucht hinuntersehen, wo der breite Sandstrand, der mit einem dekorativen Streifen bunter Granitkiesel abschloss,in traumschönes Spätnachmittagslicht getaucht war. Eigentlich die schönste Zeit des Jahres, dachte Laura schaudernd. Wenn man es nicht besser wüsste ...
Eine letzte Kurve, dann erblickte sie das Hotel. Es sah im Grunde noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte, was sie wunderte. Immerhin waren fünfzehn Jahre fünfzehn Jahre. Hier auf Jersey genauso wie überall sonst auf der Welt. Doch das Beau Rivage sah aus wie immer. Einzig die massive Veranda, die es schon zu Zeiten ihres Großvaters gegeben hatte, war beträchtlich erweitert worden. Laura blieb stehen und betrachtete die ausladende Fensterfront, in der sich der tiefblaue Augusthimmel spiegelte. In den vierteljährlichen Geschäftsberichten, die Ryan, der Manager des Hotels, ihr mit gewissenhafter Pünktlichkeit zuschickte, waren sämtliche baulichen Veränderungen der letzten Jahre – vom erneuerten Fliesenspiegel in der Hotelküche bis hin zu diesem Anbau – mit penibler Genauigkeit erläutert. Sie besaß sämtliche Baupläne, Kopien von Handwerkerrechnungen und den kompletten Schriftwechsel des Genehmigungsverfahrens, ohne sich jemals auch nur im Mindesten dafür interessiert zu haben. Einmal im Jahr lud sie einen dicken Ordner mit den gesammelten Dokumenten bei ihrem Steuerberater ab – und das war's. Mehr wollte sie mit ihrem Erbe nicht zu tun haben, wenngleich sie zugeben musste, dass es vor allem der Gewinn, den das Hotel abwarf, war, der ihr das Luxusleben ermöglichte, an das sie sich im Lauf der Jahre so gewöhnt hatte.
Einen Moment lang verharrte sie mitten auf der Straße und ließ das Bild der veränderten Fassade auf sich wirken. Dann ging sie durch die Lieferanteneinfahrt, die links neben dem Hauptgebäude entlang führte.
Das Herrenhaus lag etwas versetzt hinter dem Hotel, von dem es durch eine Mauer und eine daran anschließende hohe Hecke getrennt war. Drei Stufen führten zu der weißlackierten Haustür hinauf. Der Weg dorthin war mit Steinplatten gepflastert. Aus den Ritzen spross Unkraut hervor, und auch der einstmals repräsentative Vorgarten hätte inzwischen jeden Gärtner zum Weinen gebracht. Verwahrlost, dachte Laura mit einem fassungslosen Kopfschütteln. Das ist genau das richtige Wort, um zu beschreiben, was meine Schwester aus unserem Elternhaus gemacht hat!
Die Fassade starrte vor Schmutz, und von den einstmals blütenweißen Fensterrahmen blätterte die Farbe ab. Darunter kam nacktes, hässliches Holz zum Vorschein. Laura überlegte, wie Mia dieses Monstrum von einem Haus überhaupt warm bekam, wenn es Winter wurde. Wahrscheinlich zog und pfiff es mittlerweile durch jede Ritze, was überaus unangenehm werden konnte, auch wenn die Winter auf den Kanalinseln in aller Regel frostfrei blieben. Ihr Blick blieb an der Regenrinne hängen, die sich aus ihrer Verankerung gelöst hatte und ein ganzes Stück von der Hauswand abstand.
Aber warum hatte Tante Cora nie etwas von den Zuständen hier geschrieben?
»Es geht ihr gut, glaube ich«, war ihre Standardantwort gewesen, wann immer Laura sie nach ihrer Schwester gefragt hatte. »Natürlich benimmt sie sich von Zeit zu Zeit ein wenig seltsam. Aber ... Na ja, du kennst sie ja.«
Laura verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. Sie hatte immer mit »Ja« geantwortet, aber nun wurde ihr bewusst, dass das eine glatte Lüge gewesen war. Sie kannteihre Schwester nicht, und sie hatte mehr denn je das Gefühl, sie auch nie gekannt zu haben.
Ihre Augen glitten zu den beiden Fenstern des Salons hinüber. Dort hatte Mia gestanden, an jenem Tag, an dem ihr Vater seine zweite Frau ins Herrenhaus gebracht hatte, Madame Bresson. Sie kam nach Hause, um zu sterben, zitierte Laura in Gedanken, ohne zu wissen, wo sie diesen Satz schon
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