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Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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verzweifelt nach einem Punkt, wo ich meine Augen unterbringen kann. Dabei fällt mein Blick auf Ginnys Pumps, die aussehen, als würden sie jeden Moment platzen. Zugleich scheint alles den Atem anzuhalten. Das Schweigen ist so raumgreifend, dass man das Gefühl hat, von außen zusammengedrückt zu werden. Und ich denke noch, dass es Ryan bestimmt genauso geht, weil er unablässig am Knoten seiner Krawatte herumspielt.
    Dann allerdings geschehen zwei Dinge gleichzeitig: Tante Cora macht einen Schritt um mich herum und streckt meinem Vater eine bemehlte Hand entgegen. Und Mia dreht sich auf dem Absatz um und stürzt die Treppe hinauf.
    »Ich gratuliere dir von Herzen«, sagt Cora so ungerührt, als habe sie von Mias Abgang nicht das Geringste mitbekommen. »Aber vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn du uns...«
    Weiter kommt sie nicht, denn mein Vater lässt sie einfach stehen und packt mich bei den Schultern. »Geh und hol deine Schwester zurück!«, schreit er mir ins Gesicht. »Sofort!«
    Ich überlege, ob jemand Einspruch erheben würde, wenn ich jetzt aushole und ihm die Nase blutig schlage. Dann folge ich meiner Schwester die Treppe hinauf.
    Vor der Tür zu ihrem Zimmer zögere ich, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob ich anklopfen oder einfach hineingehen soll. Vielleicht will ich auch nur Zeit gewinnen, weil ich mir wirklich Schöneres vorstellen kann, als mit einer Horde peinlich berührter Menschen in einem düsteren Salon zu sitzen und einen gut gemeinten Apfelstrudel zu essen. Aber natürlich ist mir auch klar, dass ich nicht zu lange warten darf, weil sonst mein Vater heraufkommt und die Sache selbst in die Hand nimmt. Also stoße ich die Tür auf, ohne anzuklopfen.
    Meine Schwester liegt nicht heulend auf ihrem Bett, wie ich erwartet habe, sondern sie kniet in der Mitte des Raums und rührt in einem Farbkasten herum wie eine Wahnsinnige. Dabei hat sie erst vor ein paar Wochen eine Menge Ärger gehabt, weil sie Tuschkästen und Pinsel aus den Schultaschen ihrer Mitschüler geklaut hat. Und dabei konnte sie noch von Glück reden, dass unser Vater nicht da war. Cora hingegen hat nicht mal geschimpft, sondern bloß dafür gesorgt, dass Mia die Sachen zurückgibt, und ich frage mich ernsthaft, wo sie jetzt schon wieder diese Zeichenblöcke und die Farben her hat, die vor ihr auf dem Teppich ausgebreitet sind ...
    Ich beobachte ihre Hand, die so heftig in den Töpfchen herummischt, dass die Farbe Blasen bildet und der Pinsel mehr als einmal über den Rand ihres Zeichenblocks hinausrutscht. Aber das scheint sie nicht einmal zu bemerken. Sie hat wieder diesen abwesenden Blick, den ich so gut kenne. So als sei sie gar nicht richtig da.
    Ich rufe ein paar Mal ihren Namen, aber sie reagiert nicht.
    Ihre Hand fährt unablässig über den Zeichenblock und zaubert ein Muster wilder Linien auf das billige Papier, das unter der Wucht ihres künstlerischen Ausbruchs Wellen schlägt.
    Ein paar Minuten sehe ich ihr fasziniert zu. Dann richte ich ihr Vaters Befehl aus und gehe wieder nach unten, ohne mich darum zu kümmern, ob sie mich gehört hat oder nicht.
    In der Diele riecht es noch immer nach Äpfeln, und einen Moment lang hoffe ich, dass ich mir die letzte halbe Stunde nur eingebildet habe. Zurückspulen und alles noch mal von vorn – das wäre toll. Aber ein Blick auf die Uhr über der Tür zum Salon verrät mir, dass unser Vater tatsächlich zurück ist.
    Und mit einem Mal höre ich auch Stimmen.
    Ginny und Tante Cora übertreffen sich in Fröhlichkeit.
    Ich schiele um die Ecke und stelle verwundert fest, dass die Frau, die mein Vater uns gerade als seine Angetraute vorgestellt hat, auf dem Stuhl rechts neben ihm sitzt – nicht an der Schmalseite, ihm gegenüber, wo meine Mutter gesessen hat. Merkwürdigerweise wird mir erst in diesem Augenblick bewusst, wie viel räumliche Distanz meine Eltern immer zwischen sich gelegt haben. Und der Gedanke, dass diese Fremde meinem Vater schon nach so kurzer Zeit näher sein muss, als meine Mutter es je gewesen ist, erstaunt mich zutiefst. Wahrscheinlich habe ich angenommen, meinem Vater sei grundsätzlich nicht nahe zu kommen.
    Ich erkläre ihm, dass Mia wohl nicht so bald wieder zurückkommen wird, und er tut daraufhin das Einzige, was ich in einer solchen Situation von ihm erwartet habe: Er steht auf und geht nach oben.

7
    Laura klingelte ein paar Mal, doch im Inneren des Hauses regte sich nichts.
    Sie sah sich um, ob vielleicht irgendwo eine Nachricht für

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