Blut Von Deinem Blute
etwas überaus Verlockendes. Andererseits würde sie zwangsläufig Ginny oder Ryan über den Weg laufen, wenn sie das Hotel betrat. Eine Begegnung, für die sie sich noch immer nicht so recht gewappnet fühlte. Jedenfalls nicht ohne eine anständige Tasse Kaffee. Und dieserKaffee war ein ausgezeichneter Vorwand, wenigstens die Begegnung mit der Mordküche nicht länger vor sich her zu schieben. Vielleicht ließ sich dort ja sogar etwas Essbares finden, irgendwo zwischen den alten Leichen.
Entschlossen wandte sie sich nach rechts. Die Diele, die an der Treppe vorbei in den hinteren Teil des Hauses führte, war so staubig, als hätte man seit Jahren schlicht und ergreifend vergessen, sie zu putzen. Von der Hintertür, bei der sie endete, blätterte die Farbe ab. Überall in den Ecken lagen feine weiße Lacksplitter. Durch den Milchglaseinsatz der Tür schimmerte fahles Tageslicht herein. Dahinter lag der Hof. Und auf der anderen Seite des Hofes Mias Atelier. Laura dachte an ihre Frankfurter Wohnung, in der seit Jahren eine fast akribische Ordnung herrschte. Viel Hightech, reinweiße Wände und eine mittelklassewagenteure Einbauküche ohne Herd. Seltsamerweise schienen die wenigen Besucher, die sie je bis in ihre Küche vorgelassen hatte, gerade an dem nicht vorhandenen Herd den größten Anstoß zu nehmen. Eine Küche ohne Herd war offenbar etwas, das die Vorstellungskraft der meisten Menschen überstieg. Zum Glück glaubten die meisten ihrer Gäste, der Herd sei irgendwo versteckt, die Kapriole eines raffinierten Designers: ein getarnter Herd. Laura beließ es in der Regel bei dieser Erklärung und bereitete das Wenige, das sie in ihren eigenen vier Wänden zu sich nahm, ausnahmslos in der Mikrowelle zu. Aber meistens aß sie ohnehin auswärts.
Rechts neben dem Hintereingang führte eine schwere, alte Holztür in die Küche. Sie war geschlossen, anders als am Morgen nach dem Mord, und Laura erinnerte sich plötzlich, dass die Polizei gerade der Tatsache, dass dieKüchentür an jenem Morgen offen gewesen war, eine große Bedeutung beigemessen hatte. Die Tür hatte sperrangelweit offen gestanden, als Conchita Perreira mit ihrem verbeulten Blecheimer die Diele entlang gekommen war, um die Küchenfenster zu putzen, weil Madame Bresson sie noch am Abend ihres Todes damit beauftragt hatte. Und das portugiesische Zimmermädchen hatte nur ein paar flüchtige Sekunden gebraucht, um zu realisieren, dass für die beiden blutüberströmten Personen auf dem Küchenboden jede Hilfe zu spät kam.
Laura starrte das dunkle Holz der Tür an.
Ihre Schwester hatte für gewöhnlich ebenfalls die Hintertür genommen, wenn sie in ihr Atelier hinübergegangen war. Nur am Morgen des dreißigsten August vor fünfzehn Jahren war sie zur Vordertür hinaus und anschließend um das ganze Haus herumgegangen. Nur an jenem Morgen, an dem sie durch die weit geöffnete Küchentür die Leichen ihres Vaters und ihrer Stiefmutter hätte sehen müssen, deren Gesichter wenige Stunden zuvor bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert worden waren ...
Laura versuchte, nicht an ihren Alptraum zu denken, als sie die Tür langsam und vorsichtig aufschob. Überrascht von der Helligkeit, die eine kräftige Morgensonne durch die stumpfen Scheiben der beiden Fenster goss, machte sie ein paar Schritte in den Raum hinein, wobei sie erleichtert feststellte, dass es dort anders aussah, als sie es in Erinnerung hatte. Also hatte ihre Schwester doch ein paar Veränderungen vorgenommen!
Es gab einen anderen Herd, der ziemlich neu aussah, und auch die rustikale Truhenbank an der hinteren Wand kam ihr ganz und gar fremd vor. Lauras Augen glitten überden schwarz-weiß gefliesten Fußboden zum Kühlschrank, der noch derselbe zu sein schien wie vor fünfzehn Jahren. Sie hatte niemals Fotos des Tatortes oder der Leichen gesehen, trotzdem hatte sie mit einem Mal das Gefühl, genau sagen zu können, wo die beiden Toten gelegen hatten. Sie überlegte, ob einer der Kriminalbeamten ihr davon erzählt hatte, aber sie kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. Allerdings waren die Leichen offenbar von der Diele aus zu sehen gewesen – das ließ nicht allzu viele Möglichkeiten offen. Außerdem hatte irgendjemand erwähnt, dass Madame Bresson neben der Spüle gelegen hatte. Lauras Blicke wanderten von dort zum Herd. Am Herd saß die tote Madame Bresson in ihren Träumen. Nicht neben der Spüle. War das nicht eigentlich ein gutes Zeichen? Aber was war mit ihrem Vater?
Er war nach Madame
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