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Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Bresson gestorben, sogar eine ganze Weile später. War es nicht eben dieser Umstand gewesen, der den Kriminalbeamten mit den stechenden Augen davon überzeugt hatte, dass es sich bei dem Doppelmord im Herrenhaus nicht um einen missglückten Einbruch handelte? Laura nickte leise vor sich hin, während Mias neuer Herd unter ihren Augen zu einer konturlosen schwarzsilbernen Masse verschwamm. Ein Einbrecher, der von Madame Bresson überrascht worden wäre, hätte sich davongemacht, nachdem er die Hausherrin erschlagen hat, dachte sie. Er hätte sich nicht noch zwei Stunden am Tatort aufgehalten, um anschließend einen weiteren Mord zu begehen.
    »Zwei Stunden«, flüsterte sie. »Dass mein Vater stirbt, war von Anfang an geplant! So haben sie es damals gesehen. So mussten sie es sehen.«
    Ihr Vater sollte sterben. Und Madame Bresson? Laura schluckte. War ihr Tod ein Versehen gewesen, war sie dem Mörder ihres Mannes nur durch Zufall in die Quere gekommen? Oder war auch ihre Ermordung von vorneherein beschlossen gewesen?
    Sie kam nach Hause, um zu sterben, erinnerte sie eine wohlbekannte innere Stimme.
    Hatte sich der Polizist mit den stechenden Augen deshalb so sehr für Madame Bresson interessiert?
    Ein unerwartetes Geräusch riss Laura aus ihren Überlegungen.
    Im ersten Stock hatte sich etwas bewegt.

2
    Ginny Marquette starrte eine Kiste voller toter Fische an und überlegte, wie es möglich war, dass sie zweiundzwanzig Jahre lang in einer Sackgasse gesteckt hatte, ohne die Ausweglosigkeit ihrer Lage auch nur zu bemerken. Und was sich verändert hatte, seit ... Ja, und hier fingen die Fragen eigentlich schon an: Seit wann war ihr klar, wie ihr Leben tatsächlich verlaufen war?
    Sie schüttelte ratlos den Kopf und dachte an den Panther, den sie als Kind in einem kleinen Wanderzirkus gesehen hatte. Das Tier war unablässig in seinem viel zu engen Käfig auf und ab gelaufen, immer nah am Gitter entlang, von Wand zu Wand, hin und zurück. Aber das Schlimmste von allem war sein Blick gewesen. Die Erinnerung an die Leere in den großen dunklen Augen trieb Ginny trotz derdrückenden Wärme, die zwischen den dicht gedrängten Marktbuden stand, einen leisen Kälteschauer über den Rücken. Er hat ausgesehen, als ob er schon tot wäre, dachte sie. Lebendig begraben im eigenen Körper.
    »Aber weißt du, was das Erstaunlichste ist?«, hatte ihr Großvater damals zu ihr gesagt, als er ihre Faszination bemerkt hatte. »Selbst wenn jetzt die Tür offen stünde, würde dieses Tier genau dort bleiben, wo es ist.«
    »Warum?«, hatte sie gefragt.
    Und ihr Großvater hatte geantwortet: »Weil es gar nicht weiß, was Freiheit ist.«
    »Aber man könnte es ihm doch erklären«, hatte sie mit kindlicher Naivität eingewandt.
    »Ich fürchte nein, mein Schatz«, hatte ihr Großvater nach einem langen, prüfenden Blick in die Augen des Panthers gesagt. »Nicht diesem Tier ...«
    »Aber warum denn nicht?« Sie hatte nicht aufgeben wollen. »Was ist denn los mit ihm?«
    Ihr Großvater war neben ihr in die Knie gegangen und hatte ihr einen seiner warmen, braun gebrannten Arme um die Schultern gelegt. »Für diesen armen Burschen da«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, ohne den bemitleidenswerten Panther auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, »für diesen armen Burschen ist der Zug schon vor langer Zeit abgefahren.«
    Ginny hatte nicht verstanden, was das hieß, der Zug sei »abgefahren«. Aber sie hatte auch nicht gewagt, weitere Fragen zu stellen. Vielleicht weil sie instinktiv gespürt hatte, dass ihr die Antwort ihres Großvaters Angst machen würde.
    Seltsam, dachte sie, während die toten Fische unterihren Augen ihre Konturen verloren, an diese Sache habe ich seit dreißig Jahren nicht mehr gedacht.
    Selbst wenn jetzt die Tür offen stünde, würde dieses Tier genau dort bleiben, wo es ist.
    Und was ist mit mir?, überlegte Ginny. Was, wenn sich mir noch einmal die Chance auf ein neues Leben böte? Würde ich sie ergreifen? Wäre es mir nach all diesen Jahren noch möglich, den Absprung zu schaffen? Oder ist auch für mich der Zug abgefahren? Ist es längst zu spät?
    Ihr Blick wanderte nach oben zu den rot gestrichenen, hübsch verzierten Eisenträgern, die das Dach der viktorianischen Markthalle trugen. Verzweiflung war ein Gefühl, das sich unbemerkt an einen heranschlich und chronisch wurde, ohne irgendwelche nennenswerten Konsequenzen nach sich zu ziehen. Zumindest war es bei ihr immer so gewesen. Ihr Vater war früh an

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