Blut Von Deinem Blute
irgendeiner Feier. Laura nahm sich nicht die Zeit, die Bilder lange zu betrachten. Nicht einmal das Hochzeitsfoto ihrer Eltern mit einer kränklich aussehenden Louisa im hochgeschlossenen Kleid. Weiter unten fand sie einen Stapel Kinderfotos von Mia und sich, den sie kopfschüttelnd durchsah. Das Mädchen, das sie einmal gewesen war, kam ihr vollkommen fremd vor. Fast so, als handele es sich um eine andere Person. Laura mit Schultüte. Laura im Garten, versunken in die Lektüre irgendeines Kinderbuchs. Mia und Laura auf der Promenade,hinter ihnen eine angestrengt lächelnde Louisa, den Arm um die Schultern ihrer jüngeren Tochter gelegt. Laura hielt sich die Aufnahme dichter vor die Augen.
Die Mädchen , flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Eines der Mädchen ...
Schnell legte sie das Foto beiseite und zog ein anderes heraus: Mia mit Herrn Moll und Gipsarm auf der Schwelle zur Hintertür. Selbstbewusst, fast stolz lächelt sie in die Kamera ihres Vaters. Laura drehte die Fotografie ins Licht und suchte nach der Schramme, die der Haltegriff der Wippe auf Mias Stirn hinterlassen hatte.
Sie war einfach gesprungen.
Von ganz oben.
Selbst ihre Lehrerin war überrascht gewesen, damals. Sie saß ganz sicher. Darauf achten wir immer. Wer kann denn damit rechnen, dass das Kind einfach springt?!
Laura ließ die Aufnahme sinken und sah plötzlich den Schulhof vor sich. Die Wippe im Sonnenlicht. Mias Füße hoch oben in der Luft. Sie hält sich mit beiden Händen an dem gelben Haltegriff fest, von dem die Farbe fast verschwunden ist, vom Wind und vielen Kinderhänden. Wenn sie wieder herunterfliegt, bleiben ihre blonden Zöpfe immer ein Stück hinter ihr zurück, als wollten sie auf ewig dort oben bleiben, im strahlend blauen Sommerhimmel. In ihren Augen schimmert etwas wie Misstrauen. Der Junge, der mit ihr wippt, Brian, ist immer so wild. Mia saust in die Höhe. Brian lacht. Du bleibst jetzt, wo du bist, ruft er und stemmt seine Sandalen fest in den Boden. Ein Freund setzt sich hinter ihn. Mia erstarrt in der Luft. Jetzt lassen wir dich da oben verhungern! Die Lehrerin hört es und schüttelt nachsichtig den Kopf.
Und Mia springt.
Natürlich ist der Vater wütend. Von einer Wippe zu springen! Einfach so! Nicht einfach so, protestiert Mia. Sie haben gesagt, sie würden mich verhungern lassen, dort oben. Und jetzt lacht er plötzlich. Lacht wirklich und wahrhaftig sein seltenes Lachen, obwohl keinem Widersacher ein Missgeschick passiert ist. Der Hase, Herr Moll, lacht mit ihm. Hast du denn nicht Angst gehabt? Mia schüttelt den Kopf. Bloß vorm Verhungern. Das dauert so lange. Der Vater hört auf zu lachen und kauft ihr ein Eis beim Italiener gegenüber. Einfach so. An einem gewöhnlichen Junitag. Weil sie von einer Wippe gesprungen ist.
Sie ist gesprungen, nicht gefallen, resümierte Laura. Und das Eis vom Italiener ist kein Trost gewesen, sondern eine Anerkennung. Meine Schwester hat an einem gewöhnlichen Junitag ein Eis bekommen. Und später ein Atelier ...
Mit einem Anflug von Bitterkeit legte sie das Foto zu den anderen zurück und verschloss die Dose sorgfältig. Dann nahm sie sich den nächsten Karton vor. Darin befanden sich viele kleine Schächtelchen, die zu ihrer Überraschung alle Jahreszahlen auf den Deckeln trugen. 2008, las sie, 2007, 2002, 1998. Eine nach der anderen nahm sie die Schachteln heraus, wobei sie feststellte, dass es genau fünfzehn waren, beginnend mit dem Jahr 1995, dem Mordjahr. Laura begann zu frieren, als sie den Deckel der ersten Schachtel anhob. Sie enthielt zerrissenes Geschenkpapier mit Weihnachtsmotiven, eine Packung Pralinen und ein paar Briefe, und voller Entsetzen erkannte Laura ihre eigene Handschrift auf dem obersten Kuvert. Ms. Mia Bradley stand in ordentlichen Druckbuchstaben auf dem Umschlag, darunter die Adresse des Herrenhauses.
Mein Weihnachtspäckchen, fuhr es Laura durch den Kopf. Das erste Weihnachtspäckchen, das ich ihr aus Frankfurt geschickt habe!
Ungläubig hob sie die Pralinenschachtel hoch und betrachtete sie von allen Seiten. Sie schien vollkommen unberührt zu sein. Das Haltbarkeitsdatum der Schokoladen-Nugat-Herzen war vor mehr als dreizehn Jahren abgelaufen. Mia hatte nie auch nur einen Bissen davon gegessen ...
Im selben Moment ertönte die Türklingel.
Laura schrie vor Schreck laut auf. Wer war das? Etwa Mia? In aller Eile stopfte sie die Schachteln mit den Jahreszahlen wieder in den Karton zurück. Ihre Finger zitterten. Bei den beiden ersten
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