Blut Von Deinem Blute
sprichwörtlichen Punkt. »Du hast recht, ich werde allmählich zu alt für das Leben, das ich führe.«
Erica Dempsey kniff die Brauen zusammen. Diese Antwort war derart untypisch für ihre Tochter, dass sie sofort hellhörig wurde. »Ist alles okay zwischen Ryan und dir?«
Ginny musste mit einem Mal laut lachen. Wenn sie unter sich waren, machten Ryan und sie sich schon lange nicht mehr die Mühe eines aufwändigen Versteckspiels. Sie gingen ihrer Wege, trafen dabei hin und wieder aufeinander, doch über ein paar sachdienliche Informationen hinaus nahmen sie schon seit Jahren keinen nennenswerten Anteil mehr am Leben des anderen. Wenn er irgendwohin aufbrach, teilte Ryan ihr für gewöhnlich nur mit, dass er jetzt wegmüsse und dass sie nicht auf ihn warten solle.
Und Ginny sagte dann: »In Ordnung, bis später.«
Woraufhin er antwortete: »Ja, bis dann.«
Seltsam, dachte Ginny, indem sie den Einkaufskorb ihrer Mutter ansah. Ich habe tatsächlich immer »In Ordnung«gesagt, obwohl nichts daran für mich je in Ordnung war. Wenn man es genau nimmt, habe ich meinen Mann also die ganze Zeit über belogen ...
»Worüber denkst du nach?«, wollte ihre Mutter wissen.
Ginny sah hoch. »Über die vielen kleinen Lügen, die man sich Tag für Tag sagt, ohne lange darüber nachzudenken.«
»Was denn für Lügen?«, fragte Erica, und am Klang ihrer Stimme erkannte Ginny, dass sie alarmiert war.
Aber darauf konnte sie im Augenblick keine Rücksicht nehmen. Wer entschied eigentlich, was eine vertretbare Lüge war und was nicht? Hatte die Wahrheit tatsächlich Nuancen? Oder ging es hier schlicht um verbale Ungenauigkeiten?
»Ginny?«
Sie fuhr zusammen. »Was?«
»Was ist los zwischen dir und Ryan?«
Gute Frage, dachte Ginny, ohne auch nur den blassesten Schimmer zu haben, wie sie sie beantworten sollte. Nach den Bedrückungen ihrer Kindheit und Jugend hatte sie instinktiv nach jemandem gesucht, der das Leben leichtnahm. Und Ryan hatte genau das getan. Als sie einander kennengelernt hatten, war er Autorennen gefahren. Er hatte Casinos besucht und dabei eine unvorstellbare Menge Geld verspielt. Zugleich hatte er viel und hart gearbeitet, um seine kostspieligen Hobbys zu finanzieren, und so draufgängerisch und unkonventionell er seine Freizeit verlebt hatte, so fleißig und zuverlässig war er im Beruf gewesen. Ginny nickte. Wahrscheinlich war es eben diese Mischung aus Abenteuerlust und Verlässlichkeit gewesen, die sie davon überzeugt hatte, dass Ryan Marquette der Mann ihrer Träume war. Sie hatten lange warme Sommernächteam Strand verbracht, sie waren im Mondlicht geschwommen und traumhafte Küstenstraßen entlanggefahren, und in Ryans Gegenwart hatte sie stets das Gefühl gehabt, nicht nachdenken zu müssen. Natürlich war sie naiv gewesen damals, und sie musste zugeben, dass sie gern naiv gewesen war. Diese Naivität war vielleicht das einzige Mittel gewesen, um die Last der Schwermut, die sie mit sich herumschleppte, überhaupt tragen zu können. Und für ein paar Stunden Unbeschwertheit in Ryans Armen hin und wieder hatte sie alles in Kauf genommen, was er ihr nach der Hochzeit – und vermutlich auch schon davor – an Demütigungen zugemutet hatte. Sie hatte seine Affären geduldet, und selbst die brennendste Eifersucht war ihr zumutbar erschienen, verglichen mit dem Damoklesschwert der Melancholie, das ihr Leben bis dato beherrscht hatte. Aber dann war der neunundzwanzigste August 1995 gekommen und hatte die Unbeschwertheit zunichtegemacht ...
»Warum antwortest du mir nicht?«, riss die Stimme ihrer Mutter Ginny unsanft ins Hier und Jetzt zurück. »Ich meine, du hast doch selbst gesagt, dass Ryan dich auf Händen trägt und ... «
»Das hat er noch nie getan«, sagte Ginny, und an der Reaktion ihrer Mutter erkannte sie, dass diese von ihrem Eingeständnis in keiner Weise überrascht war. Und das, obwohl sie ihre Ehe nach außen hin tatsächlich immer als geradezu märchenhaft ideale Beziehung verkauft hatte. In den vergangenen vierundzwanzig Jahren hatte sie Tag für Tag an der Fassade ihrer Ehe poliert und konsequent jede noch so kleine Missstimmung überspielt, damit auch wirklich jeder – allen voran ihre Mutter – zutiefst beeindrucktwar von dem, was Ginny, das Aschenputtel der Familie, durch ihre Heirat mit dem smarten Lebemann erreicht hatte. Und nun musste sie erkennen, dass offenbar niemand ihr die Komödie, die sie all diese Jahre aufgeführt hatte, abgenommen hatte.
»Du hast von Anfang an
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