Blut Von Deinem Blute
gewusst, dass meine Ehe eine Katastrophe ist, oder?«, fragte sie resigniert.
Ihre Mutter wand sich sichtlich, aber irgendwann schien sie zu erkennen, dass sie um eine Antwort auf diese unbequeme Frage nicht herumkommen würde. Also tat sie das, was sie immer tat, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stand: Sie ging ohne Zögern zum Angriff über. »Es hätte dich doch sowieso nicht interessiert, was ich darüber denke.«
»Vielleicht doch.«
»Ach was!« Erica Dempsey fegte den Einwand ihrer Tochter mit einer abfälligen Geste vom Tisch. »Wenn ein Mensch wie du sich in den Kopf gesetzt hat, einen Fehler zu machen, dann muss man ihn diesen Fehler auch machen lassen. Was das angeht, bist du genauso stur wie dein Vater.«
»Stur?« Ginny lachte laut auf. »Ich?« Ihre Mutter ignorierte sie einfach. »Ryan schlägt dich aber doch nicht, oder?«
»Nein.«
»Das hätte mich auch gewundert.«
Was so viel hieß wie: Er ist ein Idiot, aber die Courage hat er nicht . ..
Erica Dempsey stemmte die Hände in die Seiten. Eine Geste, die klarmachte, dass jetzt Handeln angesagt war. »Und?«, fragte sie mit provozierend vorgerecktem Kinn. »Ziehst du irgendwelche Konsequenzen?«
»Woraus?«, fragte Ginny irritiert.
Doch anstellte einer Antwort verdrehte ihre Mutter nur die Augen.
Ginny runzelte die Stirn. Bis zu diesem Moment war sie tatsächlich nie auf den Gedanken gekommen, dass sie etwas wie Konsequenzen ziehen könnte aus dem, was sie fühlte. Dass es vielleicht doch irgendeinen Ausweg gab. Eine neue Perspektive. Bis zu diesem Tag hatte sie ja nicht einmal gewusst, dass es ihr nicht gut ging.
Selbst wenn jetzt die Tür offen stünde . ..
»Ich weiß es noch nicht«, sagte sie leise. »Ich muss darüber nachdenken ...«
5
Lauras erster Weg führte sie auf den Friedhof, der auf einer kleinen Anhöhe oberhalb der Bucht lag. Der Vormittag war angenehm warm, und Laura genoss das milde Licht der Sonne auf ihrer Haut, als sie langsam auf die aus rötlichem Granit erbaute Parish Church zuschlenderte. Neben der kleinen Fishermen's Chapel, die wunderschöne Fresken aus dem 14. und 15. Jahrhundert barg, führte der letzte erhaltene »Perquage« der Insel zum Strand hinunter. Nach altem normannischem Recht hatten zum Tode verurteilte Delinquenten auf den Kanalinseln grundsätzlich die Chance erhalten, einer Vollstreckung ihrer weltlichen Strafe zu entgehen und sich stattdessen in den unberechenbaren Fluten rund um den Archipel einer Art Gottesurteil zu unterwerfen. Am unteren Ende eines jeden Perquages,Fluchtweges, hatte deshalb ein Boot – oder vielmehr ein Nachen – bereitgestanden, wobei die Überlebenschance der Delinquenten weniger von höheren Mächten als von ihrer Körperkraft und den jeweiligen Wetterverhältnissen abgehangen hatte. Dennoch konnte sich Laura des Gedankens nicht erwehren, dass eine Flucht von der Insel – und sei es in einer winzigen Nussschale – vielleicht schon immer das kleinere Übel gewesen war.
Sie kam nach Hause, um zu sterben, erinnerte sie eine wohlbekannte innere Stimme, und Laura ärgerte sich, dass es ihr so gar nicht gelingen wollte, das diffuse Unbehagen abzuschütteln, das schwer wie eine nasse Wolldecke über ihr lag und einfach nicht weichen wollte. Schließlich war das hier ein wunderbar lichter Sommertag. Es war warm. Und sie war klug genug, um vorsichtig zu sein. Also was, um Himmels willen, sollte ihr passieren?!
Entschlossen riss sie den Blick vom Tor des Perquages los und wandte sich nach rechts, wo sie das Grab ihrer Eltern in einem liebevoll gepflegten Zustand fand. Weiße Geranien und zwei besonders schöne Kamelien blühten inmitten von sorgfältig zurechtgestutzten Bodendeckern dem unaufhaltsam nahenden Herbst entgegen, und auch der schlichte Stein wurde offenbar regelmäßig gereinigt. Er vermerkte die Namen und Lebensdaten von Lauras Großeltern, dazu den dezenten Hinweis: »Auf See bestattet«. Darunter stand: »Louisa Bradley, geb. Corbet, 1950-1989«. Laura starrte auf die Zahlen. Neununddreißig Jahre, dachte sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Schmerz. Als meine Mutter gestorben ist, war sie nur fünf Jahre älter als ich jetzt bin!
Eilig ließ sie ihre Augen noch ein Stück tiefer wandern.
»Nicholas Bradley, 1944-1995«, stand dort und gleich darunter: »Jacqueline Bradley, geb. Bresson«, gefolgt von den Lebensdaten 1945-1995. Laura schlug nach einer Fliege, die um ihren Kopf surrte. Es befremdete sie nach wie vor, den Namen »Bradley« in
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