Blut Von Deinem Blute
Herrenhauses nie hatten erreichen können.
Doch sie konnte die Verabredung mit ihrer Patentante nicht einhalten.
Wenig später erfasste ein Fieber, das sie sich nicht recht erklären konnte, ihren Körper und ließ ihn nicht wieder los ...
12
Nach einem langen Spaziergang am Strand und einem traumschönen Sonnenuntergang kehrte Leon ins Beau Rivage zurück, um bei einem Glas Guinness zu überlegen, wie es nun weitergehen sollte.
Es war kurz nach halb zehn, als er die hoteleigene Bar betrat, und es herrschte noch nicht allzu viel Betrieb. EineGruppe leger gekleideter Männer spielte unter lautem Gejohle Karten, und ein paar vereinzelte Geschäftsleute nippten an ihren Cocktails, während sie auf ihre Smartphones starrten oder auf dem Großbildschirm an der Wand, der tonlos vor sich hin flimmerte, die neuesten Börsenmeldungen verfolgten. Der leicht angegraute Pianist hingegen schien gerade Pause zu haben und saß mit unbeteiligter Miene an einem Ecktisch in der Nähe des Flügels.
Leon orderte ein Pint und bediente sich dankbar an der Schale mit Knabbereien, die die jüngere der beiden Kellnerinnen vor ihn auf den Tisch stellte. Bei seiner Rückkehr hatte er sich an der Rezeption nach Inga Bengtsons ominöser »Madame Labraque« erkundigt, die ein Freund von ihm angeblich noch von früher kenne, und die Angestellte hatte freudig genickt und erklärt, Madame Labraque erfreue sich nach wie vor bester Gesundheit. Sie lebe jetzt in La Croix, allerdings habe sie länger nichts von sich hören lassen, was hoffentlich kein schlechtes Zeichen sei.
Leon hatte sich den vollen Namen der ehemaligen Hausdame des Beau Rivage notiert und im örtlichen Telefonbuch auch so etwas wie eine Adresse ausfindig gemacht. Aber ob er tatsächlich Kontakt aufnehmen sollte – zu Bernadette Labraque, zur Polizei, zu irgendjemandem, der ihm mehr über den Mord an Nicholas Bradley verraten konnte –, wusste er nicht. Laura war hier auf der Insel, gut und schön. Andererseits musste ihre Rückkehr ja nicht zwangsläufig mit dem fünfzehnten Jahrestag der Morde zu tun haben. Wenn es stimmte, was Inga Bengtson ihm erzählt hatte, gab es vielleicht doch einen viel harmloseren Anlass. Bestimmt hat die Dubois sie hergerufen, weil's so schlimm steht mit der Irren. Leon nickte. Vielleicht mussLaura sich einfach nur um ihr Erbe kümmern, dachte er, während sein Blick auf einen Mann fiel, der am Tresen gesessen hatte und jetzt vergeblich versuchte, den Ärmel seines Sakkos zu erwischen. Er schien stark angetrunken zu sein und hielt sich mit der freien Hand an der Theke fest. Sein Haar schimmerte dunkel, fast schwarz, und obwohl er ziemlich groß war, wirkte er zierlich, fast schmächtig. Leon verfolgte seine ungeschickten Bemühungen mit einer Mischung aus Amüsement und Mitleid, während nun auch die Kellnerin, die einem Pärchen an einem der entfernteren Tische bunt garnierte Cocktails serviert hatte, auf den Mann aufmerksam geworden war. Sie stellte ihr Tablett auf der Theke ab und ging dann mit eiligen Schritten auf den Gast zu.
»Verzeihen Sie«, gelang es Leon, ihre Stimme inmitten des allgemeinen Stimmengewirrs auszumachen, »aber ich glaube, Sie haben vergessen zu bezahlen.«
Der Mann wandte den Kopf, und endlich konnte Leon nun auch sein Gesicht sehen. Er hatte einen auffallend hellen Teint, und aus seinen Augen blickte eine eigentümliche Mischung aus Aggressivität und Verletzlichkeit. Was er sagte, ging in einem Heiterkeitsausbruch der Kartenspieler unter, doch an der Reaktion der Kellnerin erkannte Leon, dass er sich offenbar keineswegs zum Begleichen seiner Rechnung bereit gefunden hatte.
Die Bedienung sah sich hilflos nach ihrer Kollegin um und machte ihr ein Zeichen. Die Frau nickte und griff nach einem Mobiltelefon, was den säumigen Zecher richtig in Wut zu bringen schien, denn er lief rot an und packte die Kellnerin, die noch immer bei ihm stand, am Arm. Was dann geschah, ging so schnell, dass der Angestellten keineZeit zum Reagieren blieb: Der Mann holte aus und schlug ihr mit der geballten Faust mitten ins Gesicht.
Die junge Frau taumelte zurück und stieß dabei gegen einen Barhocker, der krachend zu Boden fiel. Leon sprang auf und erreichte den Angreifer zeitgleich mit der anderen Kellnerin. Er packte den Mann von hinten, damit er nicht noch einmal zuschlagen konnte, und wies die Kollegin der Verletzten an, einen Stuhl heranzuziehen, während die anderen Gäste, die zwischenzeitlich interessiert herübergeblickt hatten,
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