Blut Von Deinem Blute
sie einen Schritt auf ihn zutrat. »Dann werden wir jetzt rausgehen und draußen auf sie warten. Kannst du laufen oder muss ich dich tragen?«
»Glaubt bloß nicht, dass ihr mich so einfach loswerdet«, krakeelte der Angesprochene, ohne sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren. »Ich bin nämlich so was wie eure Heimsuchung.«
»Das werden wir ja sehen«, versetzte die Frau des Geschäftsführers und griff nach dem Arm des Mannes. Doch der stieß sie unsanft zurück und sprang mit einer pfeilschnellen Bewegung von seinem Stuhl hoch. »Gottverdammte Profiteure!«, schrie er so laut, dass augenblicklich sämtliche Gespräche ringsum verstummten. »Ich werde euren Scheißfraß nicht bezahlen, darauf könnt ihr Gift nehmen. Wozu denn?! Dieser ganze Laden hätte mir gehört. Schließlich hat sich meine Mutter lange genug von diesem Scheißwichser tyrannisieren lassen.«
»Halt endlich den Mund, Julien!«, fuhr die Frau, die zusammen mit Ginny Marquette in die Bar gekommen war, ihn an.
Doch der Mann war nicht zu bremsen. »Oh nein!«, rief er mit wutverzerrtem Gesicht. »Ich werde meinen Mund nicht halten, in hundert verdammten Jahren nicht. Wenn ihr mich loswerden wollt, werdet ihr mich schon umbringen müssen. Genau wie meine Mutter ...« Er hielt inne und schien plötzlich fast erschrocken über das Aufsehen, das er erregt hatte. Einen Moment lang verharrte er regungslos. Dann wurden seine Augen trübe. Es sah aus, als wiche jeglicher Ausdruck aus ihnen zurück. Sogar die Wut. Zurückblieb eine Leere, die Leon frösteln machte. »Schon in dem Moment, als sie hier ankam, wart ihr entschlossen, sie wieder loszuwerden.« Seine Stimme klang blechern. »Ihr wolltet sie aus dem Haus haben. Von Anfang an. Und wenn ihr sie dafür umbringen musstet ...« Er unterbrach sich abermals und starrte auf einen Punkt in Leons Rücken, während sich das Dunkel seiner Augen allmählich wieder mit Leben füllte.
Leon blickte sich um und entdeckte eine blonde junge Frau, die soeben die Bar betrat. Sie trug einen hellgrünen Sommerpullover zu ihren Bluejeans und wirkte auf fragile Weise entschlossen, als sie unter den neugierigen Blicken der Gäste quer durch den Raum kam und unmittelbar vor Ginny Marquette stehen blieb. »Danke, dass Sie angerufen haben«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Es kommt nicht wieder vor.«
Dann legte sie dem Randalierer einen Arm um die Schultern und führte ihn wortlos davon.
Leons Augen folgten den beiden schlanken Rücken, die sich einander zuneigten, und er musste unwillkürlich an die beiden Porzellankatzen denken, die er seiner Mutter als Kind von einer Klassenfahrt mitgebracht hatte. Eine dieser beiden Katzen war ein Stück größer gewesen als die andere, und die Rundungen der beiden Körper hatten perfekt ineinandergepasst. Die Tiere waren zweifellos kitschig gewesen – wenn er sich recht besann, sogar geblümt! Doch seine Mutter hatte sie pflichtschuldig in die Wohnzimmervitrine gestellt, wo sie bis heute standen.
Das also ist Jacqueline Bressons Sohn, resümierte er, als das Pärchen die Tür erreichte. Einige Zeitungen hatten beiläufig erwähnt, dass die ermordete Hoteliersgattin einKind mit in die Ehe gebracht hatte, daran erinnerte er sich plötzlich. Doch das Hauptaugenmerk der Berichterstattung hatte eindeutig auf Nicholas Bradleys Töchtern gelegen. Oder vielmehr: auf dessen jüngerer Tochter. Mia.
Ich bin der Einzige, der nicht profitiert hat . ..
Was mochte Julien Bresson mit dieser merkwürdigen Aussage gemeint haben?
»Es tut mir furchtbar leid, dass Sie eine so unangenehme Szene miterleben mussten«, sagte Ginny Marquette neben ihm. »Noch dazu an Ihrem ersten Abend hier auf der Insel.«
»Überhaupt kein Problem«, antwortete er hastig. »Ich habe, wie gesagt, wirklich gern geholfen.«
Die Frau des Geschäftsführers sah zum Eingang. »Julien ist normalerweise keiner, der gewalttätig wird«, erklärte sie. »Aber er war sehr wütend und noch dazu ziemlich betrunken. Das ist vermutlich eine nicht zu unterschätzende Kombination.«
»Allerdings«, gab Leon ihr recht. »Aber, sagen Sie ...« Gottverdammte Neugier! »Warum hat dieser Mann eigentlich Hausverbot?«
»Weil er hier schon öfter randaliert hat«, antwortete Ginny Marquettes Begleiterin, als sie merkte, dass sich die Angesprochene nicht gleich zu einer Antwort durchringen konnte. »Natürlich nie, indem er jemanden tätlich angegriffen hätte. Dass er mehr als nur pöbelt, ist eine neue Dimension.«
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