Blut Von Deinem Blute
sich über ihren Porzellanteint. »Nun ja, immerhin ist es eine Insel.«
»Sind Sie hier geboren oder zugezogen?«
»Hier geboren«, antwortete sie, beinahe widerstrebend. »Mein Vater hatte früher mal eine Kneipe in St. Helier.«
»Dann ist Ihnen die Gastronomie ja sozusagen in die Wiege gelegt«, sagte Leon.
»Das eigentlich nicht«, entgegnete Ginny Marquette mit einer Bitterkeit in der Stimme, die Leon sich nicht recht erklären konnte. »Mein Vater hat seinen Beruf aufgegeben, als ich noch ziemlich klein war. Aber ich will Sie nicht langweilen. Wenn Sie Fragen haben oder ich Ihnen sonstwie weiterhelfen kann, lassen Sie es mich bitte wissen.«
Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern drehte sich einfach um und ging zurück ins Haus.
11
Den ganzen Nachmittag hatte Laura inmitten von Kisten, Kartons und alten, halb zerfallenen Koffern verbracht. Sie hatte zahllose Kleidungsstücke ausgepackt, begutachtet und wieder zusammengefaltet. Kleidungsstücke, von denen sie sicher war, sie noch nie gesehen zu haben. Nicht an ihrer Mutter. Und an Madame Bresson auch nicht. Trotzdem waren diese Kleidungsstücke bei jenen Sachen gewesen, die Madame Bresson nur »den Nachlass« genannt hatte. Laura hatte abgegriffene Briefe gelesen und in einer ganzen Reihe von Büchern geblättert. Oscar Wilde und Virginia Woolf. Balzac und Goethe. Der alte Staub, der wie Patina an den zerschlissenen Seiten klebte, hatte sich auf ihre Bronchien gelegt. Doch weit mehr als der Staub und die Ratlosigkeit quälten sie zwei Dinge, auf die sie bei ihrer Durchsicht des »Nachlasses« gestoßen war: Reste eines cremefarbenen Kleides. Und ein fleckiges, nachlässig auseinem Schreibheft herausgetrenntes Blatt Papier, das in einem abgegriffenen Gedichtband gesteckt und auf das ihre Mutter in ihrer zierlichen Handschrift nur einen einzigen Satz notiert hatte: ICH HABE DAS GEFÜHL, JEMAND TRACHTET MIR NACH DEM LEBEN.
Laura hatte beides vor sich auf den Boden gelegt und starrte nun schon so lange mit beinahe irrationalem Unglauben darauf, dass ihre Augen vor Anstrengung tränten. Trotzdem fühlte sie sich unfähig, den Blick abzuwenden. Das Kleid war hübsch, wenn auch recht bieder, aus schwerer, cremefarbener Seide, die ganz bestimmt nicht billig gewesen war. Laura verstand nicht allzu viel von solchen Dingen, aber sie ging davon aus, dass die Spitzenbesätze von Hand angebracht und auch die Zierknöpfe in mühevoller Kleinarbeit handbezogen waren. Trotzdem hatte irgendjemand eines Tages eine Schere genommen und große, hässliche Löcher in den feinen Stoff geschnitten ... Laura fühlte einen leisen Schwindel. Ein Kleid zu zerschneiden erschien ihr so krank, so absolut sinnlos, und zugleich erschrak sie über die Brutalität, die diesem Akt innewohnte. Wie viel Hass musste jemand empfinden, der etwas Derartiges tat, wie viel blinde Zerstörungswut? Oder war derjenige, der das Kleid zerstört hatte, gar kalkuliert und planmäßig vorgegangen?
Ich habe das Gefühl, jemand trachtet mir nach dem Leben ...
Hatte die angstvolle Feststellung, die ihre Mutter vor einer halben Ewigkeit auf ein schlichtes Stück Papier notiert hatte, etwas mit diesem Kleid zu tun? Hatte sich Louisa Bradley tatsächlich bedroht gefühlt? Und hatte sie vielleicht sogar recht darin gehabt, um ihr Leben zu fürchten?Was, wenn es wirklich jemanden gegeben hatte, der sie gehasst hatte? Genug gehasst, um eines ihrer Kleider in Fetzen zu schneiden. Genug gehasst, sie zu töten.
Ich habe nie daran geglaubt, dass deine Mutter sich umbringen wollte . ..
Laura hatte das unbequeme Gefühl, dass der Raum um sie herum enger wurde. Diese Aussage ihrer Patentante passte auf geradezu erschreckende Art und Weise zu dem eilig hingeworfenen Satz auf dem Zettel. Aber warum hatte sich ihre Mutter niemandem anvertraut? Warum hatte sie ihre Ängste auf ein unscheinbares Blatt Papier geschrieben, anstatt mit jemandem darüber zu reden? Oder hatte sie das am Ende doch getan? Und wenn ja, mit wem? Mit Tante Cora? Laura schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich nicht, dachte sie. Dafür ist Cora viel zu sachlich. Sie hätte niemals ohne handfesten Beweis an eine Bedrohung geglaubt, und falls doch, hätte sie unter Garantie sofort die Polizei verständigt.
Aber genau das hatte ihre Mutter ja ganz offensichtlich verhindern wollen.
Dass die Polizei informiert wurde ...
Die Frage war: warum?
Lauras Fingerspitzen strichen über das brüchige Papier. Es war eine billige Qualität, Pfennigware. Nicht
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