Blutbeichte
wegschicken muss. Ich muss erst noch darüber nachdenken.«
»Aber du gehst aufs College? Du möchtest doch?«
Shaun verdrehte die Augen. »Natürlich. Es war mir nur zu viel, ständig darüber nachzudenken. Schließlich muss ich mich entscheiden, wo ich in den nächsten Jahren leben und was ich später machen möchte. Das ist nicht leicht. Aber ja, ich will aufs College.«
Joe seufzte. »Da bin ich froh.«
»Wie geht es dir?«, fragte Shaun.
Joe runzelte die Stirn. »Mir? Großartig.«
Shaun stellte keine weiteren Fragen.
Joes Handy klingelte, doch auf dem Display war keine Nummer zu sehen. Joe stand auf und ging ins dunkle Wohnzimmer.
Duke Rawlins’ drohende Stimme drang an sein Ohr. »Das mit dem Grab war ein guter Versuch.«
»Ja? Ich dachte mir gleich, dass es Ihnen gefällt«, erwiderte Joe.
»Sie haben Ihren alten Freund gebeten, eine kleine Reise hierher zu machen, nicht wahr? Ich nehme an, er hat es getan. Dann hat er ein paar Losern Geld gegeben, damit sie gleich neben Donnie ein Grab schaufeln. Da ist nicht viel Platz. Vielleicht für eine zierliche Frau. Oder für ein Kind.«
Joe schwieg und wartete.
»Ein so guter Freund kann er nicht sein, wenn Sie ihn dorthin schicken, wo Sie mich vermuten«, sagte Rawlins.
Joes Herz klopfte laut, als er an Patti Nicotero dachte, die schon ihren Sohn verloren hatte.
Rawlins’ Stimme wurde leiser, als er fortfuhr: »Wahrscheinlich wussten Sie, dass dies der Ort war, an den ich zurückkehren würde. Es war unerträglich für Sie, nicht zu wissen, wo ich all die Monate war und was ich gemacht habe und mit wem …«
Anna kam ins Wohnzimmer. Ihre Augen strahlten. Sie hatte eine neue Frisur. Das dunkle, glänzende Haar, das an der Seite gescheitelt war, fiel ihr bis auf die Schultern. Joe lächelte siean. Sie streckte die Arme aus. Ihr weißes Top rutschte hoch, worauf die winzige Wölbung ihres Bauches entblößt wurde. Joe spürte seine Liebe zu ihr, doch auch Bedauern und Angst, Schuldgefühle und Scham.
Anna setzte zum Sprechen an. Ohne dass Joes Lächeln erlosch, drückte er ihr einen Finger auf die Lippen und hörte dem Anrufer zu.
Es war eine schlimme Sache, einem Killer so nahezukommen, in seine kaputte Welt hineingezogen zu werden, ihn berühren zu müssen, ihn ständig sehen zu müssen, Fragen von ihm gestellt zu bekommen und sich ganz auf ihn einlassen zu müssen. Die meisten Menschen hatten Duke Rawlins nur auf Fotos gesehen, die in den Zeitungen veröffentlicht worden waren – aus sicherer Entfernung –, sodass sie die Fäulnis im Innern dieses Mannes nicht erkennen konnten. Stand er jedoch leibhaftig vor einem, drang diese Fäulnis durch alle Poren, stand in den seelenlosen Augen, legte sich wie ein dünner Film auf die ungeputzten Zähne und die ungewaschene Haut. Joe hatte Anna gezwungen, diese Grenze unvorbereitet zu überschreiten. Sie wurde aus dem angenehmen Leben, das sie mit Joes Hilfe aufgebaut hatte, herausgerissen und in Duke Rawlins’ verdrehte Welt geworfen. Jetzt erschien es Joe fast wie eine Illusion, dass er ihr ein großartiges Leben versprochen hatte, ohne dieses Versprechen halten zu können.
Als er Anna betrachtete, überkamen ihn Mitleid und Schuldgefühle. Rawlins hatte Anna verfolgt, hatte sie gekidnappt und gefangen gehalten, hatte sie geschlagen und ihre Haut mit einem Messer zerschnitten.
Anna drehte sich um, doch ehe sie hinausging, warf sie Joe einen Blick über die Schulter zu. Ihre Augen strahlten, und ihr Lächeln wärmte ihm das Herz.
Joe schaltete das Handy aus.
Rawlins hatte Anna Schreckliches angetan, doch sie war nicht daran zerbrochen.
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