Bluteis: Thriller (German Edition)
MIP-System der Bank zeichnete auf der obersten Ebene die umfangreichen Adress- und Stammdaten des Kunden auf: Namen, Firmen, Firmenverknüpfungen, Finanzdaten und so weiter. Eine Ebene darunter wurden die Informationen persönlich: aktiv betriebene Sportarten mit den jeweiligen Leistungsstufen, passive Lieblingssportarten mit den favorisierten Clubs und Einzelsportlern, Musikgeschmack nach Genres inklusive Lieblingskünstler, Kunstgeschmack inklusive kürzlich erworbener Kunstwerke et cetera. Auf diese Weise konnte Sonndobler per Smartphone jederzeit das richtige Small-Talk-Thema für jeden Gast auf einem seiner Events oder in der Vorbereitung eines Kundentermins abrufen. Aber auch Suchtpotenziale für Alkohol, Kokain, Tabletten und Spielsucht in vier Abstufungen (zum Beispiel Antialkoholiker, Gesellschaftstrinker, Kontrollverlusttrinker, Pegeltrinker) waren ebenso nachgehalten wie das Interesse am jeweils anderen Geschlecht (die Kürzel »he«, »ho« und »bi« waren eindeutig) und die Bereitschaft, sich außerehelich zu betätigen (mit den Kürzeln »mo« für monogam, »pol« für polygam und »pro« für promiskuitiv). Auf diese Weise konnte bereits im Vorfeld eines Anlasses genau darauf geachtet werden, dass niemand neben jemandem sitzen würde, neben dem er oder sie nicht sitzen sollte. Dazu dienten auch die Notierungen der Weltanschauungen, der politischen und bei manchen Personen die rassistischen Einstellungen.
In der Datenbank gab es auch ein 5-Sterne-System für die Wichtigkeit eines Kunden. Der Name des Systems selbst – Management of Important Persons – wies auf diese Kernfunktion hin. Das Punktesystem mischte harte Fakten wie Geschäfts- und Privatvermögen und Umsatzrelevanz für die Bank mit weichen Fakten wie Imagewert der einzelnen Person (das war die einzige Kategorie, in der auch negative Sterne erworben werden konnten), Multiplikatorwirkung und schlicht und ergreifend die Bedeutung des einzelnen Kunden für den CEO der Bank, für Dr. Albert Sonndobler.
Alles in allem bot das MIP-System die Möglichkeit, auf einen Blick zu erfassen, was der einzelne Mensch für die Bank wert war, was sein Verlust als Kunde kosten würde und welche Potenziale für die Bank in ihm schlummerten. Die vielen hochsensiblen Informationen zeigen zudem Wege auf, wie diese Potenziale zu heben waren. Natürlich konnte man eine bevorstehende Anlageentscheidung leichter zu seinen eigenen Gunsten beeinflussen, wenn man wusste, mit wem der Kunde schlief und erst recht, wenn man wusste, mit wem er schlafen wollte, und wie man ihm dabei behilflich sein konnte.
Thien war klar, warum Sonndobler ihn in sein Allerheiligstes vorgelassen hatte. Ihm wurde damit auf sehr eindrucksvolle Weise bedeutet, dass die Bank schlicht und ergreifend alles wusste oder herausbekommen konnte, wenn sie wollte. Sie musste über eine kleine Geheimarmee von Spitzeln und Zuträgern verfügen, die diese Informationen beschafften. Das hatte Sonndobler wahrscheinlich gemeint, als er gesagt hatte, dass Zürich voll von Spitzeln sei. Es waren seine eigenen. Dabei durfte davon ausgegangen werden, dass die Konkurrenz nicht schlief. Was die Caisse Suisse hatte, hatte sicher der große Wettbewerber ein Haus weiter am Paradeplatz auch. Und wenn er es nicht hatte, dann war er dabei, so etwas aufzubauen.
Ja, dieser Sonndobler war der wichtigste Mann der Schweiz, das war Thien allzu klargeworden. Und er – Thien Hung Baumgartner – hatte sich darauf eingelassen, für diesen Mann, der einen Schattengeheimdienst neben dem schweizerischen betrieb, zu arbeiten.
Hätte er gewusst, wie sehr Sonndobler seinerseits von den Möglichkeiten, die Lex Kayser ihm präsentiert hatte, überrascht und erschrocken gewesen war, er hätte seine Ski genommen und wäre über die verschneiten Pässe zurück in das sichere Deutschland geflohen.
Doch war Deutschland so sicher? Wer wusste dort was über wen? Und hatte er dort nicht am Weihnachtstag diese Amis gesehen?
Am frühen Nachmittag hatte Thien nach fünf Stunden Recherche zu jedem der sechs Entführten eine Tabelle zusammengestellt und in sein Laptop getippt. Er hatte sich für fünfzehn Uhr mit seinem Waffenbruder Markus Denninger verabredet. Sie hatten es für am unauffälligsten erachtet, gemeinsam eine Skitour zu gehen. Dabei würde ihnen niemand unbemerkt folgen und sie abhören können.
Bevor er sich aus der Bibliothek aufmachte, studierte Thien noch einmal seine Dossiers. Er war zufrieden mit seiner Arbeit. Die
Weitere Kostenlose Bücher