Bluteis: Thriller (German Edition)
Prolog
Sonntag, 17. Februar, 11 Uhr 13
St. Moritz, St. Moritzersee
F lurin Da Silva sah sich um. Er konnte es kaum glauben. Doch, es hatte einen ganz einfachen Grund, warum kein Fahrer vor ihm war: Er lag in Führung. Konnte Dreamstar das Tempo über die Strecke halten? Würden seine eigenen Oberschenkel die Strapaze überstehen? 2700 Meter auf Ski mit fünfzig Stundenkilometern hinter einem Pferd über einen zugefrorenen See gezogen zu werden war schlicht Wahnsinn. Und er wollte diesen Wahnsinn als »König des Engadin« beenden. Er schrie seinem Pferd ein lautes »Go! Go!« zu. Los, Dreamstar, renn! Renn sie alle in Grund und Boden! Die Millionärssöhne und die bezahlten Fahrer. Die fit gespritzten Galopper. Zeig’s ihnen!
Hinter ihm donnerten die Hufe der Pferde in den Schnee, der das Eis bedeckte. Er konnte sich nicht andauernd umdrehen, um nachzusehen, ob sein Vorsprung wuchs oder schmolz. Er musste sich konzentrieren. Auf Dreamstar. Und auf die beiden Ski an seinen Füßen. Das was die besondere Schwierigkeit beim Skijöring: Nicht nur das Pferd musste auf eigenen Beinen die Strecke bewältigen, auch der Mensch, der an einer Leine vom Tier gezogen wurde. Er musste sicher auf den beiden Latten stehen. Sonst würde er das Spezialgeschirr nicht bedienen können, mit dem er das Pferd lenkte. Drei Meter hinter dem Tier war das wesentlich schwieriger als auf dem Tier. Die Skijöring-Spezialisten sagten, dass sie im Vergleich zu einem Reiter höchstens ein Zehntel des Einflusses auf ihren vierbeinigen Partner hatten. Darum war es so schwierig, eine Renntaktik aufzustellen und einzuhalten. Das Pferd musste die neunzig Prozent Hirnleistung, die sonst der Jockey erledigte, selbst erbringen. Weil Pferde das nicht konnten, war meist das ausdauerndste Team als erstes im Ziel. Oder dasjenige, das als erstes in die Kurve nach der Startgeraden ging.
An diesem Tag war das Dreamstar gewesen. Wieder. Wie beim ersten und beim zweiten Skijöring-Rennen des »White Turf«, der großen Pferdesportveranstaltung, die den ganzen Februar über an den Wochenenden auf dem St. Moritzersee stattfand. Beim ersten Wettbewerb vor zwei Wochen hatte der Vorsprung nicht bis ins Ziel gereicht. Der Vollblüter des arabischen Prinzen hatte ihn um eine halbe Länge geschlagen. Letzte Woche hatte Dreamstar es dann geschafft. Da war er um eine Nasenlänge vorn gewesen. Photofinish. Wenn er diesen Sieg nun wiederholen könnte, würde der Titel »König des Engadin« endlich wieder an einen Einheimischen gehen. Einen, der sein Pferd selbst gezogen und trainiert hatte.
Er ließ die Leinen des Geschirrs auf Dreamstars Rücken klatschen, um ihn weiter voranzutreiben. Das war die einzig erlaubte Form der Einflussnahme des Lenkers auf sein Pferd. Peitschen und Gerten waren beim Skijöring untersagt. Und man hätte auch gar keine Hand dafür frei gehabt. Die Hände umkrallten den Holzstab, der an den Enden der Leinen befestigt war. Zwischen diesen flatterte das bunte Tuch, das verhindern sollte, dass andere Pferde in das Geschirr hineinliefen, wenn der Fahrer in den Kurven oder wegen eines Fahrfehlers nicht hinter, sondern neben dem Pferd fuhr.
Dieses Rennen hatten Dreamstar und er bisher fehlerfrei absolviert. Sie waren wie ein Pfeil aus der Startbox geschossen, als sich die Eisentür geöffnet hatte. Dreamstar war an den weiter innen gestarteten Galoppern vorbeigefegt, und Flurin Da Silva hatte sein Pferd schon wenige Meter nachdem sie die Haupttribüne hinter sich gelassen hatten, hart an der Grenze des Erlaubten scharf nach innen gezogen, damit sie als Erste in die Kurve gingen.
Ein, zwei Längen mochten sie mittlerweile zwischen sich und dem Feld haben. Jetzt zählte nur noch die Kondition. Und dass weder Pferd noch Fahrer fielen. Für die Kondition hatten die beiden den ganzen Sommer über trainiert. Ob einer von ihnen strauchelte oder nicht, entschieden höhere Mächte und die Streckenpräparatoren, die die Trittlöcher im Geläuf des Rundkurses nach jedem Rennen mit Pistenraupen planierten. Eine halbe Stunde vor dem Skijöring-Rennen war ein Flachrennen angestanden. Die Galopper hatten die Schneedecke ordentlich umgepflügt.
Sie rasten wieder auf die Haupttribüne zu. Das Geschrei der zehntausend, die bei diesem klirrend kalten, aber strahlenden Februartag an die Strecke gekommen waren, nahm er nicht bewusst war. Erst recht nicht das Gejohle der Super-VIPs, die in einem eigenen Zelt mit separater Tribüne das Rennen verfolgten. Die meisten
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