Geh nicht einsam in die Nacht
MANCHEN MENSCHEN STEHT auf ihrem Lebensweg die Unzulänglichkeit ins Gesicht und in die Bewegungen geschrieben. Sie strahlen Furcht aus und bekommen weniger Chancen, als sie verdient hätten, und irgendwann fressen ihre Misserfolge sie innerlich auf. Ich nehme an, dass die Person, die ich Ariel nenne, von Anfang an ein solcher Mensch gewesen ist.
Andererseits gibt es Menschen, denen alles leichtzufallen scheint, so leicht, dass ihr Können und ihre Furchtlosigkeit im Laufe der Jahre zur undurchdringlichen Maske werden. Trotzdem geht eine undefinierbare Bedrohung von ihnen aus. Es ist, als flüsterte jemand, vielleicht ein Raubtier, unter ihrer Maske: Leg dich bloß nicht mit mir an, es wird dir schlecht bekommen. Jouni Manner ist ein solcher Mensch.
Und ich, wie bin ich? Ich weiß es nicht. Ich habe mich so lange und so gut vor den anderen versteckt, dass ich mich selbst verlor.
Ich bin die Stimme, die von Ariel und Jouni, die von Adriana Mansnerus und ihrer kleinen Schwester Eva, von Pete Everi im Stationsvägen 12 in Tallinge und vielen, vielen anderen erzählen wird. Doch wer erzählt, sucht immer auch nach sich selbst.
Es gibt Geschichten, die geradeheraus und schlicht erzählt werden müssen. Sie sollen klingen, als wären sie niemals von Menschenhand berührt worden, als wären sie vom Himmel gefallen oder in einer Wolke aus Feuer und Schwefel aus der Unterwelt aufgestiegen.
Und es gibt andere Geschichten, in denen sich der Erzähler zu erkennen geben muss, damit die Zusammenhänge sichtbar werden.
Diese hier gehört zur letztgenannten Art, das weiß ich schon jetzt, da ich ein weiteres Mal Adriana Mansnerus’ Tagebücher heraussuche und in ihnen blättere, da ich zum ersten Mal seit vielen Jahren die missratene Biographie über Jouni Manner aus dem Bücherregal ziehe und zu verstehen versuche, was für ein Mensch zwischen den Zeilen aufscheint.
Nun, ich bereite mich darauf vor, anzufangen.
* * *
Ariel Wahl wurde mitten im Krieg geboren, zu einer Zeit, in der sich alle – Männer, Jungen, Frauen, Mädchen – verhärten mussten. Dennoch beschloss seine Mutter Lydia, ihn ausgerechnet Ariel taufen zu lassen. Es gab keinen Vater, jedenfalls keinen, der geblieben wäre, und Mutter und Sohn zogen häufig um, allerdings immer an ähnliche Orte: Ariel wuchs in den härtesten Vierteln von Helsingfors auf, in Vallgård, Rödbergen und Berghäll.
Als Ariel zum ersten Mal Jouni Manner begegnete, bezog er eine Tracht Prügel. Es geschah im Spätsommer auf einer Brachfläche an der Ecke Tavastvägen und Fjärde linjen, es war Abend und der Sonnenuntergang kalt und schneidend, und in Hunderten Fenstern brannte bereits Licht. Jouni Manner war damals erst vierzehn, aber groß und hart wie Feuerstein und längst einer der gefürchtetsten Raufbolde in den unteren Teilen des Arbeiterbezirks Berghäll. Selbst Ariel, ein verträumter und weltabgewandter Jüngling, hatte schon von ihm gehört. Dagegen wusste Manner außer dem Namen fast nichts über Ariel, er wusste beispielsweise nicht, dass Ariel sich nicht prügeln konnte, und ebenso wenig, dass er stotterte, wenn er sich bedroht fühlte. Außerdem war Manner zu jung, um die Weichherzigkeit wahrzunehmen, die Ariel ins Gesicht geschrieben stand. Manner war kein Sadist, er verlangte nach ebenbürtigen Gegnern, in Ariel sah er lediglich einen älteren Jungen, einen potentiellen Rivalen, und als solcher musste er bezwungen werden. Deshalb versperrte er Ariel den Weg und erklärte, sowohl Ariel als auch Wahl seien Schwulennamen, und wer so einen schwulen Namen habe, dem werde die Fresse poliert, und da er zwei habe, bekomme er erst recht was in die Fresse. Ariel versuchte, darauf mit einer witzigen Bemerkung zu reagieren, begann vor Angst jedoch zu stottern: Er war siebzehn, aber Leuten wie Manner, der noch dazu von zwei Adjutanten unterstützt wurde, die bei Bedarf eingreifen würden, hatte er nie und würde er auch nie etwas entgegensetzen können. Als Ariel zum dritten Mal zu Boden ging, weigerte er sich, sich wieder aufzurappeln. Seine Nase blutete, und er wollte nicht mehr geschlagen werden. »Steh auf«, sagte Jouni Manner, »hau ab!« Ariel sah Jouni an und sagte: »I-ich hab w-wirklich nicht vor, a-a-aufzustehen. Wenn du mich n-noch mal schlagen w-willst, m-musst du dich b-b-bücken.«
Eine Woche nach dieser einseitigen Prügelei kam Ariel in die riesige Aleksis-Kivi-Schule am Braheplan. Jouni Manner besuchte dieselbe Schule, und trotz des Altersunterschieds und
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