Bluteis: Thriller (German Edition)
hatten ihn seine Gedanken auch nachts nicht zur Ruhe kommen lassen, und er hatte sich von rechts nach links und wieder zurückgewälzt. Was er von Sonndobler erfahren hatte, brauchte seine Zeit, um verarbeitet zu werden.
Sie hatten seine Sandra höchstwahrscheinlich verwechselt. Mit einer Natalija Petuchowa. Deren Leiche hatten sie aus dem See gefischt. Die Frau sah auf allen Bildern, die Sonndobler ihm gezeigt hatte, seiner Sandra tatsächlich zum Verwechseln ähnlich. Auch auf den Fotos, die Sonndobler ihm im abhörsicheren Besucherzentrum unter dem Berner Bundesplatz gezeigt hatte.
Er hatte Sonndobler versprechen müssen, niemandem, auch nicht Steiner, zu verraten, welche Daten die Bank über ihre wichtigsten Kunden vorhielt. Thien Hung Baumgartner und Albert Sonndobler waren die einzigen Menschen, die ein umfassendes Bild über die Entführten hatten. Sonndobler traute offenbar einem Skifotografen mehr als dem Geheimdienst seines Landes. Nach allem, was Thien über Geheimdienste wusste, war das keine schlechte Strategie. Doch warum traute er ihm sogar zu, gegenüber Steiner den Mund zu halten? Das war Thien nach eingehender Analyse seiner Situation schnell aufgegangen. Sein Leben stand auf eines sehr scharfen Messers Schneide. Ein Wort von Sonndobler zu Steiner, dass Thien unzuverlässig wäre, und man würde ihn unverzüglich aus dem Verkehr ziehen. Da würden die beiden Schweizer, die sich gegenseitig offenbar nicht über den Weg trauten, zusammenhalten. Gegen den Fremden. Er war – auch das war Thien auf der Bahnfahrt klargeworden – so etwas wie das Gelenk, der Drehpunkt einer Waage, die sich in einem labilen Gleichgewicht befand. Auf der einen Seite saß der Schweizer Staat, dessen Geheimdienst, sein Militär- und Polizeiapparat, personifiziert durch Beat Steiner, den Alpen-007, und auf der anderen saß die Schweizer Bankenwelt, die den letzten Rest Vertrauen ihrer Kunden im tobenden Wasser des St. Moritzersees hatte versinken sehen. Nur noch ein kurzer Zipfel dessen, was einmal ein Stahlnetz an Sicherheit gewesen war, ragte aus dem eiskalten Wasser des Sees heraus, und den wollte der oberste Banker Albert Sonndobler packen, um zu retten, was zu retten war. Er musste die verschwundenen Superkunden seines Instituts finden. Und er konnte niemanden damit beauftragen, weil ja die offizielle Seite so tat, als wären diese Menschen tot. Also musste irgendwer ran. Und wenn es Thien Hung Baumgartner war, den ihm der Geheimdienst schickte.
Thien wollte die Informationen, die er von Sonndobler erhalten hatte, nachrecherchieren. Natürlich hatte Sonndobler ihm nicht erlaubt, die sehr speziellen Daten auf einem Speichermedium mitzunehmen. Einiges hatte er sich gleich im Zug von Bern nach St. Moritz aus dem Gedächtnis notiert. Ziel des Besuchs beim CEO der Caisse Suisse war, ein Gefühl für diese Menschen zu bekommen. Damit er sie auch erkennen konnte, wenn er sie vielleicht in einer Menge anderer Menschen sah. Vielleicht an Kleinigkeiten. Aber es war einfach zu viel gewesen, um sich alles zu merken. Er wollte auch die Informationen, die Sonndobler ihm mitgegeben hatte, mit möglichst vielen Hintergründen ergänzen. Es ging um internationale Wirtschaftsverflechtungen – ein Gebiet, auf dem Thien bislang nicht allzu viel Wissen angehäuft hatte. Also musste er sein eigenes Drittel- bis Halbwissen mit demjenigen, das Journalisten in Zeitungen und Zeitschriften hineinschrieben, ergänzen.
Im Internet, das in Maloja immer noch nicht funktionierte, konnte er nicht nachsehen, deshalb hatte er sich in die öffentliche Bibliothek aufgemacht. Dort saß er an einem der hellen Holztische und klickte auf der Tastatur eines Rechners herum, der die Internetseiten mit der betäubenden Langsamkeit des Jahres 1995 aufbaute. Die Datendurchsatzraten des Netzes, das freigeschaltet war, waren beschränkt, und natürlich saßen irgendwo maschinelle und menschliche Mitleser.
Thien hatte sich bei Sonndobler in Bern immerhin zwei Stunden lang mit den Kundendossiers auf dem iPad beschäftigen dürfen, im Anschluss hatte Sonndobler ihm einen USB-Stick übergeben, der die allgemeinen Daten der vermissten Personen in einer ganz einfachen Textdatei beinhaltete. Name, Firma, Funktion, Herkunft, Sprache, Größe, Gewicht der vermissten Personen. Allein dass eine Bank Daten wie Körpergröße und Gewicht speicherte, war nach Thiens Dafürhalten skandalös, doch in den speziellen Daten waren sogar sämtliche Vorlieben der Kunden vermerkt.
Das
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