Blutengel: Thriller
des Polizeizeichners auf die Bretter sackte. Dann hallte Sienhaupts Wimmern durch die Kirche.
36.
»Mangold, Sie haben den Mann einfach erschossen«, sagte Kaja. »Ohne Vorwarnung!«
Mangold ordnete die vor ihm liegenden Papiere. Ohne sie anzusehen, sagte er: »Ja, der Mann hatte nichts mehr zu verlieren. Es ging um das Leben von Sienhaupt und Weitz.«
»Das wäre ja noch schöner«, protestierte Weitz und warf ihr einen giftigen Blick zu. »Unsere Psychologin hätte das Arschloch lieber nett gebeten, doch bitte schön vom Podest zu steigen, oder was? Lernt ihr das auf der Uni?«
»Sie lagen übrigens richtig, Kaja«, sagte Mangold, »Stevens war tatsächlich der Sohn des Priesters Hans Peter Schwan.«
»Scheinheiligkeit«, sagte Kaja. »Darum ging es. Vom Vater verleugnet und verlassen, muss er später mit ansehen, wie seine eigene Lebensgefährtin von einem Mann vergewaltigt wird, der seinerseits in einem kirchlichen Heim missbraucht wurde.«
»Das ist noch lange nicht alles«, sagte Hensen. »Tanja Binkel, die die Opfer dieser Missbrauchsfälle berät, wird ausgerechnet vom beschuldigten Müller alias Carolus gekauft und begeht Mandantenverrat. Das muss der eigentliche Auslöser gewesen sein. Stevens hat das sicher im Präsidium mitbekommen.«
»Aber warum versteckte die Frau all ihre Unterlagen in der Badewannenverkleidung?«, fragte Tannen.
»Aus Angst«, sagte Hensen. »Aus Angst vor Carolus, der sie zwar sozusagen umgepolt, aber ihr aller Wahrscheinlichkeit nach auch gedroht hat. Möglich, dass er immer mehr von der Frau verlangte.«
Mangold klappte den vor ihm liegenden Aktendeckel zu und erhob sich. Langsam zog er die Stecknadel heraus, mit der er das Bild der an einem Bein aufgehängten Tanja Binkel an der Pinnwand befestigt hatte. Während er es noch einmal eingehend betrachtete, sagte Hensen: »Tanja Binkel als erstes Opfer. Sie hat nicht nur ihren Bruder zu einem Vergewaltiger gemacht, sondern auch die Opfer der Heimerziehung verraten. Als Mitarbeiter der Berliner Polizei hat der Zeichner …«
»Stevens war also kein Beamter?«, fragte Kaja Winterstein überrascht.
Mangold löste seinen Blick von dem Tatortfoto.
»Der Mann war arbeitsloser Künstler und musste auf Druck des Arbeitsamtes bei der Polizei den schlecht bezahlten Job als Polizeizeichner antreten«, sagte Mangold. »Das muss für ihn, der früher eng mit dem berühmten Joseph Beuys gearbeitet hat, ganz besonders erniedrigend gewesen sein. Als Polizeimitarbeiter war es dann kein Problem, sich in den Akten umzusehen.«
»Das passt«, sagte Kaja. »Das Maß an Erniedrigungen war voll. Er selbst wird von seinem Vater abgelehnt und macht den dafür verantwortlich, dass aus ihm kein berühmter Künstler geworden ist. Eine Wunde, die nicht verheilen konnte. Dass er seinen Vater töten musste, nachdem er angefangen hatte, die Verantwortlichen heimzusuchen, erscheint fast logisch. Ohne seinen Vater wäre da eine Lücke gewesen. Ich frage mich nur, ob der Priester seinen Sohn erkannt hat. Das werden wir wohl nie erfahren. Die ganze Mordserie ist ein kalkulierter Amoklauf. Stevens wollte alles zurückzahlen.«
Mangold schob das Bild Tanja Binkels behutsam in einen Ordner. Dann nahm er das Tatortfoto mit dem auf einer Schaukel ausgebluteten Niendorfer Rentner von der Wand.
»Aber warum hat er Kunstwerke kopiert?«, fragte Tannen.
Kaja überlegte kurz und sagte dann: »Bewunderung für seine Vorbilder, deshalb die an Beuys angelehnten Filzstückchen an den Tatorten. Und gleichzeitig der Vorwurf an seinen Vater, dem er die Schuld daran gab, dass aus seinen künstlerischen Ambitionen nichts geworden war. Außerdem: Kunstwerke verjähren nicht. Er wollte, dass auch die Verbrechen in den Heimen und Internaten nicht verjähren.«
Hensen wühlte in seiner Jackentasche, zog eine Handvoll Gummibären heraus und ließ sie auf den Tisch rieseln. Dann begann er, sie nacheinander aufzustellen.
»Das könnte eine Shakespeare-Geschichte sein«, sagte Hensen und stellte einen gelben Gummibären auf seinen Zettelkasten. Daneben legte er einen grünen Bären und sagte: »Tanja Binkel bringt fast ihren Bruder um, der erleidet eine psychische Störung und wird zur Belohnung in ein Heim gesteckt.«
Hensen nahm den grünen Bären, stellte ihn auf das Tastaturfeld seines Telefons und fuhr fort: »Im Heim wird er missbraucht. Kaum erwachsen, vergewaltigt er eine Frau, und niemand kümmert sich um die wahren Täter, die den Typen zum geistigen Krüppel
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