Bluternte: Thriller
inne. Gillian hatte sich auf ihrem Sessel aufgerichtet. »Wirklich?«, fragte sie und beugte sich zu Evi vor. »Die Leute sehen und hören Tote?«
»Ja«, bekräftigte Evi. »Das kommt durchaus vor. Ist Ihnen das auch passiert? Haben Sie … sehen Sie Hayley?«
Langsam schüttelte Gillian den Kopf. »Ich sehe sie nie«, sagte sie. Einen Moment lang erwiderte sie Evis Blick. Und dann erschlaffte ihr Gesicht, sank in sich zusammen, als entweiche die Luft langsam aus einem Ballon. »Ich sehe sie nie«, wiederholte sie und griff abermals nach den Papiertaschentüchern. Die Schachtel fiel zu Boden, doch es gelang ihr, eine Handvoll Tücher festzuhalten. Sie presste sie gegen ihr Gesicht. Immer noch keine Tränen. Vielleicht waren sie alle aufgebraucht.
»Lassen Sie sich Zeit«, meinte Evi. »Sie müssen weinen. Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.«
Gillian weinte nicht, nicht wirklich, aber sie hielt sich die Papiertücher vors Gesicht und gestattete ihrem ausgetrockneten Körper zu schluchzen. Evi sah zu, wie der große Zeiger dreimal das Zifferblatt umrundete.
»Gillian«, sagte sie, als sie fand, dass sie der jungen Frau genug Zeit gegeben hatte. »Dr. Warrington hat mir erzählt, dass Sie immer noch jeden Tag mehrere Stunden auf dem Moor herumlaufen. Suchen Sie immer noch nach Hayley?«
Ohne aufzublicken, schüttelte Gillian den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich das mache«, murmelte sie in die Papiertücher hinein. »Ich krieg’ einfach so ein Gefühl im Kopf, und dann halte ich’s drinnen nicht mehr aus. Ich muss raus. Ich muss suchen.« Gillian hob den Kopf, und ihre blassgrauen Augen starrten Evi an. »Können Sie mir helfen?«, fragte sie und sah plötzlich viel jünger aus als ihre sechsundzwanzig Jahre.
»Ja, natürlich«, antwortete Evi rasch. »Ich verschreibe Ihnen ein paar Medikamente. Antidepressiva, damit Sie sich besser fühlen, und dann noch etwas, damit Sie nachts besser schlafen können. Das ist eine vorübergehende Maßnahme, um Ihnen zu helfen, diesen Kreislauf des Krankseins zu durchbrechen, verstehen Sie?«
Gillian starrte sie an wie ein Kind, das erleichtert ist, dass endlich ein Erwachsener die Dinge in die Hand genommen hat.
»Sehen Sie, der Schmerz, den Sie empfinden, hat Ihren Körper krank gemacht«, fuhr Evi fort. »Seit drei Jahren schlafen oder essen Sie jetzt nicht mehr richtig. Sie trinken zu viel, und Sie überanstrengen sich bei diesen langen Märschen auf dem Moor.«
Gillian blinzelte zweimal. Ihre Augen sahen rot und wund aus.
»Wenn Sie sich tagsüber ein bisschen besser fühlen und nachts richtig schlafen, dann können Sie auch etwas gegen das Trinken unternehmen«, erklärte Evi weiter. »Ich kann Sie an eine Therapiegruppe überweisen. Die helfen Ihnen, die ersten Wochen zu überstehen. Wäre das eine Idee?«
Gillian nickte.
»Wir werden uns jede Woche hier sehen, so lange, wie es nötig ist«, sagte Evi. »Wenn Sie allmählich besser mit sich klarkommen, wenn Sie das Gefühl haben, Sie haben den Schmerz im Griff, dann müssen wir daran arbeiten, Ihnen zu helfen, sich an Ihr Leben zu gewöhnen, so wie es jetzt ist.«
Gillians Augen waren trübe geworden. Sie zog die Brauen hoch.
»Bevor das alles passiert ist«, erklärte Evi, »waren Sie Ehefrau und Mutter. Jetzt ist Ihre Situation vollkommen anders. Ich weiß, das klingt krass, aber es ist eine Realität, der wir uns zusammen stellen müssen. Hayley wird immer ein Teil Ihres Lebens sein. Aber im Augenblick ist sie – ihr Verlust – Ihr ganzes Leben. Sie müssen dieses Leben neu aufbauen und gleichzeitig einen Platz für Ihre Tochter finden.«
Schweigen. Die Papiertücher waren zu Boden gefallen, und Gillian hatte die Arme fest vor dem Körper verschränkt. Das war nicht die Reaktion, auf die Evi gehofft hatte.
»Gillian?«
»Sie finden mich bestimmt total ätzend, weil ich das sage.« Gillian fing an, den Kopf zu schütteln. »Aber manchmal wünsche ich mir …«
»Was wünschen Sie sich?«, fragte Evi, und ihr wurde klar, dass sie zum ersten Mal, seit sie Gillian begegnet war, wirklich nicht wusste, was die junge Frau antworten würde.
»Dass sie mich einfach in Frieden lassen würde.«
3
Das schlafende Kind hatte weiches helles Haar von einer Farbe wie Zuckerwatte. Die Kleine lag in ihrem Wagen und schlief tief und fest im Sonnenschein. Ein feinmaschiges Netz war von oben bis unten über den Wagen gespannt, um sie vor Insekten zu schützen und vor allem anderen, was sonst noch im
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