Blutfeuer
Haderlein, »nicht jeder möchte in einem
Atemzug mit Ihnen genannt werden.« Es entstand eine kleine Pause am anderen
Ende der Leitung. »Aber jetzt die Fakten!« Haderlein hatte einen Ton an sich,
der bei jedem anderen Gesprächspartner die Hölle hätte zufrieren lassen. Aber
was interessierte einen Pathologen die Hölle? Er arbeitete schließlich in deren
Vorzimmer.
»Nun, ich bemerke an Ihrer feinsinnigen Bemerkung, dass Sie die
Toten höher schätzen als die Lebenden, Haderlein. Auch wenn diese bisweilen
nicht so gesprächig sind, Herr Kommissar«, meinte Siebenstädter resigniert.
»Aber gerade unfreiwillige Leichen sind manchmal überraschend mitteilsam.«
»Mitteilsam?«, knurrte Haderlein fragend und gab sich vorsichtig der
Hoffnung auf Informationen hin.
Siebenstädter hielt einen kurzen Moment inne, und Haderlein konnte
ihn lächeln hören. »Die Paradebeispiele für unsere überalterte Gesellschaft,
die da vor mir liegen, sagen mir: ›Wir starben eines unnatürlichen Todes, Herr
Siebenstädter.‹«, begann er seinen Vortrag.
»Ach was«, stöhnte Haderlein, »sonst noch was Sensationelles?«
Aber der Gerichtsmediziner beachtete ihn nicht und fuhr unverdrossen
fort: »Diese Menschen wurden so umgebracht, wie es ihrer Lebensgeschichte als
Kriegsgeneration entspricht.«
»Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?«, fragte Haderlein
immer ungeduldiger, aber jetzt auch gespannt.
»Ganz einfach«, erläuterte ihm Siebenstädter sachlich. »Alle vier
wurden klassisch vergast. Die Substanz nennt sich Carbonylchlorid, das
Dichlorid der Kohlensäure, besser bekannt als das Kampfgas aus dem Ersten
Weltkrieg: Phosgen.«
»Noch nie gehört«, gestand Haderlein. »Was ist das für ein Zeug? Und
bitte keine wissenschaftliche Abhandlung, denken Sie an das unsoziale
Sprengkommando!«
Siebenstädter sog deutlich hörbar die Luft ein. »Versuchen Sie jetzt
auch noch witzig zu werden, Haderlein?«, gab er eloquent zurück. »Lassen Sie
das lieber, Sie Pseudohumorist. Tun Sie das, was Sie wirklich können. Da haben
Sie ja nicht allzu viel zur Auswahl. Aber«, machte er sogleich weiter, um
Haderlein nicht die Chance zur Gegenrede zu geben, »um Ihre naive Frage zu
beantworten: Bei Phosgen handelt es sich, wissenschaftlich betrachtet, um ein
farbloses Gas, das im Jahr 1812 von einem Engländer namens Davy entdeckt wurde.
Phosgen ist extrem giftig. Es war unter anderem für den Großteil der
neunzigtausend Gastoten im Ersten Weltkrieg verantwortlich. Es duftet leicht,
nun, wie soll ich sagen, nach verfaulter Banane.«
Du lieber Gott, dachte Haderlein etwas erschrocken. Das hatte er
doch in St. Getreu in dem Zimmer mit dem erigierten Stock gerochen.
»Phosgen ist nicht gut wasserlöslich und nur giftig, wenn es über
die Lunge aufgenommen wird. Dann aber extrem«, machte Siebenstädter ungerührt
weiter. »Es dringt bis in die Lungenbläschen vor und zersetzt sich dort zu
Kohlenstoffdioxid und Salzsäure. In höheren Dosen wird dadurch der
Sauerstoffaustausch in der Lunge verhindert, das Organ zersetzt, und der Mensch
ist binnen Sekunden tot. Es gibt kein Gegenmittel – außer die Luft anzuhalten.
Praktisch, nicht?«
»Ihren verqueren Zynismus können Sie sich sparen. Wird Phosgen noch
hergestellt? Wo kriegt man das Zeug heutzutage her?«, wollte Haderlein umgehend
wissen.
»Nun, meinem außerordentlichen Fachwissen zufolge wird Phosgen heute
nur noch in der chemischen Großindustrie hergestellt, um damit CDs, Farbstoffe
oder Medikamente zu produzieren. Dort wird es aber strengstens bewacht. Da wäre
es einfacher, Gold aus Fort Knox zu stehlen, als auch nur ein Milligramm dieses
Stoffes zu entwenden.«
»Also ein Kampfgas aus dem Ersten Weltkrieg«, sinnierte Haderlein
laut.
»Tja, vielleicht hatte da noch einer eine alte Rechnung mit diesen
Veteranen offen«, spekulierte Siebenstädter. »Aber nun, Herr Oberkriminaler, da
ich Ihnen den Fall ja faktisch schon gelöst habe, möchte ich Sie noch auf drei
weitere Leichen aufmerksam machen, die bei mir herumliegen und mit denen ich
nichts anzufangen weiß. Frisch aus Italien und Spanien importiert. Augäpfel
aufgeplatzt, orangefarbene Höhlen, das Blut hat eine Farbe und Konsistenz wie
Quittengelee. Äußerst interessante und ungewöhnliche Fälle. Vielleicht könnten
Sie in Ihrer kriminalistischen Einfalt einmal einen Blick …?«
Aber Haderlein wimmelte ihn ab. »Verschonen Sie mich mit Ihren
Horrorgeschichten, Siebenstädter. Italien und Spanien sind ganz
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