Blutige Küsse und schwarze Rosen
Es stand weit offen, ließ den kühlen Wind in das Zimmer fahren, der die schwarzen Tüllgardinen aufblähte und zum Tanzen brachte.
Draußen erblickte er Nico, der in der Mitte des Garagendaches kniete, auf dem er und Elias sich das erste Mal geküsst hatten. Er schaute bewegungslos in die Leere – wie ein in Stein gemeißelter Gott. Ein wunderschöner und zugleich doch so trauriger Anblick. Was ihm wohl durch den Kopf gehen mochte? Und ob er schon lange so dort draußen saß?
Die warme Decke von den Beinen geschoben, schwang Elias sich von der Matratze und ging zu dem geöffneten Fenster. Die Schritte seiner nackten Füße wurden von dem Teppich gedämpft und so bemerkte Nico ihn erst, als Elias’ Silhouette im Fensterrahmen auftauchte, auf dessen Sims der Regen bereits eine kleine Pfütze gebildet hatte.
Überrascht blickte Nico auf. Sein Haar hing ihm tief in die Stirn und ließ das Wasser in einem dünnen Rinnsal über sein Gesicht strömen. Die völlig durchnässte Kleidung klebte ihm am Leib und schmiegte sich eng um seine Muskeln.
„Ich hab mir eben überlegt, Ines nächstes Wochenende zu uns zu holen und eine kleine Übernachtungsparty zu dritt zu feiern. Sie wäre sicher begeistert“, meinte er. „Außerdem sollten sie und deine Eltern endlich erfahren, dass du schwul bist – und dass wir jetzt zusammen sind.“
Eine sengende Hitze stieg in Elias auf. Es machte ihn glücklich, dass Nico aus ihrer Beziehung keinen Hehl machen wollte, und stolz, ihn zum Freund zu haben. Doch gleichzeitig war er fürchterlich nervös. Wie würde seine Familie reagieren? Sie alle mochten Nico, aber würden sie ihn auch noch als Elias’ Partner mögen und akzeptieren?
Es verging keine Sekunde und Elias schämte sich schon für seine eigenen Bedenken. Seine Familie liebte ihn. Er musste ihnen vertrauen. Und überhaupt: Er konnte und wollte sein Outing nicht auf ewig vor sich herschieben. Das hier war er. Schon immer. Es hatte sich also nichts geändert – jedenfalls nicht Elias’ Persönlichkeit. Alles andere in seinem Leben war in den letzten Tagen auf den Kopf gestellt worden.
„Okay …“, sagte er schließlich so leise, als könnte er mit zu laut gewählten Worten die Nacht verschrecken, und nickte zögernd. „Du hast recht. Ich … Ich rufe sie morgen an und lade sie ein.“ Elias fröstelte leicht, als ihm die feucht riechende, kühle Luft um den unbekleideten Oberkörper wehte. „Das ist aber nicht alles, was dich gerade beschäftigt, oder? Was tust du hier? Die Sonne geht sicher bald auf.“
Mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen sah Nico ihn an. In seinen langen Wimpern hatten sich feine Regenperlen verfangen und Tropfen liefen ihm wie Tränen die Wangen hinab.
„Mir bleibt noch genug Zeit“, meinte er wispernd und Elias verstand, dass Nico damit nicht bloß diese Nacht meinte.
„Was ist los?“, fragte er besorgt. Seinen Freund auf diese Weise zu sehen, brach ihm das Herz. Er hatte geglaubt, jetzt, da Nico und er den Gefahren entkommen waren, würden sie gemeinsam aufatmen können.
„Sag mir, was dich bedrückt“, bat Elias, kletterte durch das Fenster hinaus ins Freie und ließ sich neben ihm nieder. Er sah die schwachen Lichter der Laternen, die sich wie ein strahlendes Spinnennetz durch die menschenleeren Straßen zogen, und spürte die kühlen Regentropfen, die seine nackte Haut liebkosten.
Endlich begann Nico zu reden.
„Schon als kleines Kind hatte ich unheimliche Panik vor der Zeit“, flüsterte er. „Ich hörte die Uhr ticken und bedauerte jede der vergangenen Sekunden. Die alte ging, die neue kam – aber nichts änderte sich. Mein Vater verbrachte jeden Tag damit, sich die Birne vollzuschütten … und meine Mutter und mich zu tyrannisieren, zu schlagen. Um dann noch mehr zu trinken. Immer wenn ich vom Kindergarten und später aus der Schule kam, hatte ich schreckliche Angst vor dem, was mich zu Hause erwarten würde. Ob ich meine Mutter zusammengeschlagen am Boden vorfinden würde. Oder meinen Vater am eigenen Erbrochenen erstickt. Oft flehte ich sie beide an, etwas zu ändern, in Therapie zu gehen oder einen Neubeginn zu wagen. Sehr oft. Doch die Antwort war ständig dieselbe. Es war keine verbale Antwort …“
Elias drehte sich bei diesen Worten der Magen um. Nico hatte nie viel von seiner Familie erzählt. Lediglich wenige Male war seine Vergangenheit ansatzweise zur Sprache gekommen.
Tröstend legte Elias ihm eine Hand auf das Knie. Er wollte nichts sagen –
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