Blutige Seilfahrt im Warndt
Mit den kleinen Fältchen um die Augen und die Mundwinkel sah er noch charmanter und verführerischer aus. Die Jahre verliehen seinem Gesicht noch mehr Charakter, was es Grewe fast unmöglich machte, sich in seiner Nähe neutral zu geben.
Mit Mühe konzentrierte er sich auf die Frage seines Gegenübers und antwortete: »Was glaubst du denn? Natürlich mache ich mir Sorgen um dich. Dieser Fall nimmt Dimensionen an, mit denen niemand rechnen konnte. Oder glaubst du, Arthur Hollingers Tod hätte nichts damit zu tun?«
»Nein, das glaube ich nicht. Aber nur durch mein Auftauchen bei deinem Vorgesetzten bist du in diese gefährliche Situation geraten. Deshalb mache ich mir Vorwürfe. Ich wollte das nicht. Dich wiederzusehen ist eine Sache. Und das ist schön. Aber nicht unter solchen Umständen.«
Grewe fühlte sich wie elektrisiert. Neben ihm saß genau der Mann, um den sich schon seit ihrer ersten Begegnung seine Gedanken drehten. Aber nie hatte er es gewagt, offen dazu zu stehen. Das hatte Grewe in den Wahnsinn getrieben. Und nicht nur das. Es hatte ihn aus dem Bergmannsberuf getrieben. Er hatte die Ungewissheit nicht mehr ausgehalten – die Angst, die Botschaften, die Bonhoff ihm gesendet hatte, am Ende doch falsch verstanden zu haben.
Inzwischen waren zwanzig Jahre vergangen. Aber die Heftigkeit seiner Reaktion verriet ihm, dass sich an seinen Gefühlen für Bonhoff in der langen Zeit nichts geändert hatte.
»Und warum bist du überhaupt zur Polizei gegangen?«, fragte er patziger, als er es eigentlich wollte.
»Weil ich schon immer ein Außenseiter in unserer Partie war. Weil ich nie dazugehört habe. Weil ich machen konnte, was ich wollte, ich bekam immer dieses Gefühl vermittelt. Und du wirst nicht glauben, warum ich ausgestoßen war.«
»Warum?« Grewe spürte einen schmerzlichen Stich in einer Brust.
»Weil ich als Mimose verschrien war. Ein Mann, der keinen Mumm hat. Oder besser noch: Ein Mann, der keine Eier in der Hose hat.« Bonhoff schaute Grewe an. Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt gewesen, Grewe endlich spüren zu lassen, was er ihm damit angetan hatte. Ihn anzuschreien. Ihm Vorwürfe zu machen. Aber stattdessen sah er etwas anderes in diesem Blick: Resignation und Vergebung.
Das Fehlen jeglicher Anklage seines Freundes machte es ihm unmöglich, weiterhin so zu tun, als sei dieser hässliche Spitzname von allein gekommen. Er hatte ihn Bonhoff gegeben, weil Bonhoff ihn hatte im Regen stehen lassen. Oder zumindest hatte Grewe das geglaubt.
Sie schwiegen eine Weile. Aus dem dichten, grauen Nebel wurde Nieselregen. Die Pfützen auf dem Parkplatz füllten sich. Das Laub der Bäume, die den Platz säumten, schillerte in den schönsten Farben, was dem grauen Tag einen bunten Anstrich verlieh.
»Deshalb wundere ich mich, dass du mir gegenüber immer noch so loyal bist und dir solche Gedanken um mich machst«, fügte Grewe leise an.
»Weil ich endlich die Chance sehe, dir zu beweisen, dass ich keine Mimose bin. Dir und allen diesen Wichtigtuern da unten in tausend Metern Tiefe. Ich bin kein Held – aber auch kein Feigling.«
»Das sagt ja auch niemand«, pflichtete Grewe ihm bei. »Ich war damals unfair zu dir, habe die Folgen nicht bedacht. Ich wusste nicht, was ich damit anrichtete.«
»Deshalb werde ich jetzt an deiner Seite bleiben«, beharrte Bonhoff. »Ich bin in deinem Büro aufgetaucht und habe dich in diese gefährliche Situation gebracht. Hätte ich meine Klappe gehalten, wäre Pitts Tod zum Unfall erklärt worden und alles wäre längst vergessen. Vielleicht ist durch dein Auftauchen bei uns unten die Situation erst richtig eskaliert.«
»Den Verdacht habe ich auch«, gab Grewe zu. »Als sei der Täter in Panik geraten. Aber ich bin im Gegensatz zu dir für solche Gefahrensituationen ausgebildet. Und das weißt du auch. Deshalb wundere ich mich, dass du so unvorsichtig bist.«
»Ich bin nicht unvorsichtig.«
»Was ist es dann, was du tust?« Grewe schaute Bonhoff an, der seinen Blick mit einer Intensität erwiderte, die Grewe noch nie an ihm erlebt hatte. Doch eine Antwort blieb aus.
Schnur trat gerade aus Andreas Büro heraus, als er die beiden Männer den Flur betreten sah. Er wunderte sich, dass Grewe seinen Kameraden mitgebracht hatte. Einerseits sollte der Undercovereinsatz unter absoluter Verschwiegenheit durchgeführt werden – andererseits jedoch war es gerade dieser Bergmann gewesen, der sie auf die Zustände unter Tage aufmerksam gemacht hatte. Trotzdem hoffte Schnur,
Weitere Kostenlose Bücher