Blutige Seilfahrt im Warndt
auch bei Arthur Hollinger jemand die Tür aufgebrochen hatte.«
»Wann?«
»Letzte Nacht! Seine Nachbarin hat uns erzählt, Hollinger hätte sich am frühen Morgen bei ihr beklagt, weil sich in der Nacht jemand an seiner Haustür zu schaffen gemacht hätte und er nach seiner Schicht den Schlüsseldienst rufen müsse.«
»Zur Polizei wollte er nicht?«
»Nein. Angeblich wäre es nicht so schlimm gewesen, hat die Nachbarin die Aussage von Hollinger wiedergegeben.«
»Und was hat die Spurensicherung in dieser Sache festgestellt?«
»Die Tür wurde fachmännisch aufgebrochen. Es ist wirklich möglich, dass Hollinger dabei selig weitergeschlummert hat.«
»Entweder, er verfeinert seine Methoden, oder er passt sich der jeweiligen Situation an«, grübelte Schnur. »Bei Uwe Bentrup wurde die Tür mit einer Rohrzange aufgebrochen.«
Stille breitete sich in Schnurs Büro aus. Alle Kollegen waren gegangen. Nur Grewe saß noch seinem Chef gegenüber und spürte weiterhin diese Spannung, an der er selbst die Schuld trug. Deshalb verhielt er sich auch ganz ruhig und wartete ab, was Schnur mit ihm allein besprechen wollte.
Der rieb sich über sein rasiertes Kinn, schaute Grewe direkt in die Augen und sagte endlich: »Die Grubenwehr hat keinen weiteren Toten gefunden.«
Grewe nickte. Das wusste er bereits, weil sich solche Dinge unter Tage schneller herumsprachen als über Tage. Aber er sagte nichts dazu.
»Ich kann die Arbeit dieser Männer nicht beurteilen«, fuhr Schnur fort. »Allerdings ist es mehr als seltsam, dass Karl Fechters Leiche nicht gefunden wird.«
»Was meinst du damit?«, hakte Grewe nach.
»Dass ich zwei Möglichkeiten in Betracht ziehe: Entweder wir können uns nicht auf die Fähigkeiten der Grubenwehr verlassen. Aber leider dürfen wir nicht runter. Leichenspürhunde hätten den Toten gefunden, wenn er dort liegt.«
»Wenn er dort liegt?« Grewe riss die Augen auf.
»Eben! Damit komme ich zum Oder. Oder unser Mann konnte lebend aus dem unterirdischen Labyrinth heraus.«
Kurzes Schweigen trat ein. Grewe war fassungslos. Bei dieser Theorie fiel ihm sofort wieder Paolo Tremantes Behauptung ein, er hätte Fechter aus einem Wetterstollen kommen sehen.
»Ich weiß, ich weiß«, lenkte Schnur schnell ein. »Diese Vermutung ist schon der berühmte Griff nach dem Strohhalm. Sobald ich anfange, Geister des Mordes zu beschuldigen, könnt ihr mich ruhig auf meine Geistesverfassung hinweisen.«
»So ist es nicht …« Grewe druckste herum.
»Wie sonst?«, drängte Schnur.
Es dauerte einige Sekunden, bis sich Grewe dazu entschloss, ihm von Paolo Tremantes Erscheinung zu berichten.
Damit löste er eine Reaktion bei seinem Vorgesetzten aus, mit der er nicht gerechnet hatte. Schnur lachte laut los.
Grewe fuhr sich durch seine schwarzen Haare, bis sie ihm zu Berge standen und murrte: »Hätte ich nur den Mund gehalten.«
»Nein! Ist schon o.k.«, beschwichtigte Schnur schnell wieder. »Es ist zwar schwer vorstellbar, dass Karl Fechter noch lebt. Aber ganz unmöglich ist es auch nicht. Solange wir keine Leiche haben, sollten wir für diese Möglichkeit offen bleiben.«
»Aber wo sollte er all die Jahre gewesen sein?«
»Dazu kann uns vielleicht sein Sohn Tim Fechter etwas sagen«, spekulierte Schnur. »Wir haben herausgefunden, wo er wohnt. Ich werde Andrea beauftragen, mit ihm zu sprechen.«
»Sollte er seinen Vater irgendwo beherbergen, wird er es uns nicht sagen.«
»Wir bekommen alles früher oder später raus!«
Grewe stimmte zu. Er hatte Schnur schon oft bei Vernehmungen beobachtet und jedes Mal wieder über dessen Überzeugungskraft gestaunt.
»Aber damit kommen wir zur nächsten Frage: Gibt es andere Ausgänge aus der Grube Warndt, außer den beiden Schächten, die ich inzwischen auch kenne?«
»Klar, die gibt es. Aber dort muss uns Michael Bonhoff hinführen. Ich weiß nämlich nicht, wo diese Schächte sind.«
»Vergiss nicht, dass Bonhoff nur ein Zeuge ist. Er kann nicht in sämtliche Ermittlungen involviert werden«, bremste Schnur sofort Grewes Eifer.
»Dann zeigt er uns als Zeuge, wo diese Ausgänge sind«, beharrte Grewe. »Ich würde sie nicht finden, weil ich nie dort war.«
Schnur brummte etwas, was wie eine Zustimmung klang, rieb sich eine Weile über sein Kinn, bis er fragte: »Das bedeutet doch, dass unser Phantom tatsächlich unbemerkt die Grube hätte verlassen können?«
»Theoretisch ja!« Grewe spürte, wie ihm Gänsehaut hochkroch. Dieser Gedanke war ihm unheimlich.
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