Blutige Vergeltung

darum gebeten hatte? Er hatte darauf bestanden, dass ich in Santa Luz blieb, weil er wusste, dass meine Verantwortung der Stadt gegenüber genauso wichtig war wie seine der Familie gegenüber.
    „Ja, aber ich komme klar. In Santa Luz brauchen sie dich mehr.“ Eine lange Pause folgte, keiner von uns wollte das Gespräch beenden. Diesmal unterbrach er die Stille als Erster: „Ich muss dann mal wieder.“
    „Okay.“ Leg nicht auf. Perry hat mich angerufen, und ich hob Angst. Bitte komm heim. Ich schluckte die Worte herunter. „Pass auf dich auf, Fellknäuel.“
    „Du auch. Grüß alle von mir.“
    „Mach ich.“ Ich wartete kurz, dann streckte ich den Arm aus und beendete die Verbindung. Er hasste Abschiede.
    Und ich auch.
    Ich steckte das Telefon in die Ladestation und sah zu, wie die Beleuchtung ausging. Atmete lange aus. Meine Muskeln unter dem zerrissenen, blutgetränkten T-Shirt zuckten und taten weh. Meine Hose hing in Fetzen – in seiner Verzweiflung hatte der Arkeus die Schlagader in meinem Oberschenkel nur um Haaresbreite verpasst, als es mir endlich gelungen war, ihn in die Enge und zu genug physischer Dichte zu treiben, um ihn tatsächlich bekämpfen zu können.
    Ich hob den Pager hoch. Die Nummer darauf war mir bekannt. Ich griff abermals nach dem Telefon und wählte, ohne lange drüber nachzudenken. Es klingelte zwei Mal.
    „Montaigne“, bellte er.
    „Der Herr haben gebrüllt?“ Ich klang normal, aufgeweckt und allzeit bereit. Gepriesen sei Jill Kismet, die große Schauspielerin!
    „Schon wieder eine Vermisstenmeldung in der East Side. Und dann wäre da noch was. Kannst du vorbeikommen?“
    Mir tat alles weh. Mit einem letzen, sehnsüchtigen Blick auf die zerknitterten Kissen und zerwühlten Decken kämpfte ich mich aus dem Bett. In unserer Beziehung war Saul der häusliche Typ, der für Ordnung sorgte, ich war in diesem Kram noch nie gut gewesen.
    Der Schmerz in meinem Herzen war noch immer da. Ein fieses Stechen, wie von einem gesplitterten Knochen in meiner Brust. Ich quälte mich rüber zur Kommode und verzog schmerzhaft das Gesicht, als die Narbe unter dem feuchten Lederband Hitze verströmte und das Bein vollständig heilte. Plötzlich spürte ich den Drang, das Armband abzureißen, um sicherzugehen, dass das Mal nicht wuchs. Aber ich kämpfte ihn zurück.
    „Jill?“ Monty klang einigermaßen verzweifelt.
    Ich riss mich zusammen, zerrte eine Schublade auf und zog ein schwarzes Frodo Lives!-Shirt heraus. „Ich bin schon auf dem Weg.“
    Das Licht am AB blinkte. Doch ich ignorierte es und stürzte mich ins Bad, in eine neue Hose und einen neuen Tag, der mit großer Wahrscheinlichkeit wieder einmal wenig Schlaf mit sich bringen würde.

5
     
     
    „Michael Spilham.“ Monty legte die Akte auf seinen unordentlichen Schreibtisch. „Ist letzte Nacht an einer Bushaltestelle in der Nähe des Percoa Parks verschwunden. Um zweiundzwanzig Uhr fünfzehn wurde er noch von einem vorbeifahrenden Kollegen gesehen, wie er auf den Bus um zweiundzwanzig Uhr sechsundzwanzig gewartet hat. Aber die Busfahrerin dieser Linie sagt, er sei nicht zugestiegen. Sie meint, sie hätte sich noch darüber gewundert, weil er sonst immer mitfährt. Als er nicht rechtzeitig nach Hause kam, hat ihn seine Mutter als vermisst gemeldet – weil es ihm nicht ähnlich gesehen habe. Vielleicht ist alles ganz harmlos, aber es ist dieselbe Gegend, in der auch die anderen Vermissten sich in Luft aufgelöst haben.“
    Ich nickte. Percoa Park. Ein kleines Schaudern huschte mir über den Rücken – dort hatten wir schon mehrere Leichen gefunden. „Das Zeitfenster ist winzig.“
    „Der Bus könnte an die fünf Minuten Verspätung gehabt haben. Trotzdem hast du recht“, stimmte mir Monty zu.
    Wenn Monty nicht noch etwas auf dem Herzen hätte, hätte er mir den Tatort einfach übers Telefon mitgeteilt, und ich wäre schon dort, um nach Hinweisen zu suchen. Die übrigen Vermisstenfälle in der East Side schienen alle das gleiche Schema aufzuweisen: Die Leute verschwanden spurlos, im Freien, als hätte sich in kürzester Zeit der Erdboden aufgetan und sie verschluckt. Wenn Menschen verloren gehen, brauchen sie dazu oft nicht lange. Aber das hier roch faul.
    Genau genommen roch es nach der Hölle. Oder etwas anderem Unnatürlichen. Trotzdem … „Ich weiß nicht recht. Alles an diesem Fall stimmt mit den anderen überein, abgesehen vom Geschlecht des Opfers.“
    Doch auch das hatte reichlich wenig zu bedeuten. Meistens sind die