Blutiger Spessart
Gras noch ganz schwach die Abdrücke einer Fahrspur erkennen konnte. Irgendwann gestern musste hier ein Fahrzeug entlanggefahren sein. Ein Traktor hatte breitere Reifen, womöglich ein Geländewagen.
Mit einem kurzen Rundblick überzeugt er sich davon, dass er nicht beobachtet wurde, dann stieg er zügig die Leiter hinauf. Oben ließ er sich auf dem Sitzbrett nieder und taxierte die Entfernung zur Fundstelle. Maximal sechzig Meter. Selbst für einen mittelmäßigen Schützen ein Kinderspiel. Es war durchaus denkbar, dass der Schuss von hier abgegeben worden war.
Als er sich anschickte, den Hochsitz wieder zu verlassen, stieß er mit dem Schuh gegen einen kleinen, gelbfarbenen Gegenstand, der ihm nun entgegenrollte. Er hatte etwas versteckt unter dem Sitzbrett in einem toten Winkel auf dem Boden des Hochsitzes gelegen. Schmitt stieß einen kleinen Überraschungspfiff aus, dann bückte er sich. Wie er vermutet hatte! Es handelte sich um eine abgeschossene Patronenhülse. Das Messing der Hülse war noch nicht angelaufen, sie konnte also noch nicht lange hier liegen.
Schmitt schob einen Kugelschreiber in die Öffnung, in der im geladenen Zustand das Projektil steckte, hob sie hoch und betrachtete den Boden der Hülse genauer. Dort war das Kaliber eingeprägt. »Kaliber 35. Whelen«, murmelte er leise. »Schau an, da hat einer eine Vorliebe für Exoten.« Diese Patrone war, soweit er wusste, bei Jägern in Deutschland nur sehr wenig verbreitet, in Amerika aber ein durchaus häufig vorkommendes Kaliber.
Am Hülsenmund hatte das Metall eine merkwürdige unrunde Einbuchtung, so als wäre es beim Repetiervorgang irgendwie gestaucht worden. Schmitt ließ die Patronenhülse ebenfalls in einer Tüte verschwinden. Zusammen mit dem gefundenen Projektil war das ein hervorragender Beweis, falls man einen solchen irgendwann einmal benötigte. Mit dieser markanten Veränderung, die möglicherweise beim Ladevorgang oder beim Abschuss entstanden war, sollte es möglich sein, die Patrone ziemlich leicht einem bestimmten Gewehr zuzuordnen. Nach seinen Erfahrungen verursachten vor allen Dingen automatische Waffen derartige Verformungen an Patronenhülsen. Da in Deutschland automatische Waffen für die Jagd verboten waren, konnte es sich nur um ein Selbstladegewehr handeln.
Wenig später verließ der Sprenger das Gebiet wieder. Was er gefunden hatte, war aufschlussreich.
Am Abend verabredete er sich nochmals mit Trospanini an derselben Stelle. Er berichtete dem Consigliere über das Ergebnis seiner Nachforschungen. Als er erwähnte, dass er am Mais ein Projektil und auf dem Hochsitz eine Patronenhülse gefunden hatte, stellte Trospanini nüchtern fest: »Das bedeutet doch, dass Ricardo, falls das Blut von ihm stammt, mit hoher Wahrscheinlichkeit dort am Maisfeld erschossen wurde.«
»Zumindest schwer verletzt«, stimmte Schmitt zu, »das ist nicht von der Hand zu weisen. Absolute Sicherheit bekommen wir aber erst, wenn wir die DNA überprüft haben. An das Vergleichsmaterial haben sie gedacht?«
Trospanini griff in die Tasche und holte einen Briefumschlag heraus, den er seinem Gegenüber aushändigte.
»Es sind Haare aus seiner Bürste. Ich nehme an, das Material genügt.«
Schmitt nahm den Umschlag entgegen und erklärte, dass er sich melden würde, sobald er das Untersuchungsergebnis habe.
In dieser Nacht brach eine große Wildschweinrotte in das Maisfeld ein und verwüstete eine große Fläche. Dazu gehörten auch Teile der Wiese, auf der die Schwarzkittel nach Würmern und Engerlingen wühlten. Triebfeder war ihr dringendes Bedürfnis nach Proteinen. Alle Spuren des Aufenthalts von Ricardo Emolino wurden durch die Aktivitäten der Schweine völlig vernichtet. Nach dem Festmahl zogen sich die Schwarzkittel in die Dickung hinter dem Hochsitz zurück und ruhten.
16
Trospanini erhielt den Anruf von F.-J. Schmitt vier Tage später, am frühen Morgen. Der Sprenger hielt sich wie immer mit seinen Ausführungen knapp.
»Das Ergebnis des DNA-Tests ist eindeutig: Das Untersuchungsmaterial und das Vergleichsmaterial stammt von der gleichen männlichen Person.«
Der Consigliere, der den Anruf in seinem Haus im Arbeitszimmer entgegengenommen hatte, musste sich setzen.
»Das heißt, dass Ricardo Emolino dort draußen auf dem Feld erschossen wurde.« Die Endgültigkeit des Untersuchungsergebnisses traf ihn ziemlich hart. Er hatte den Jungen gemocht.
»Ob erschossen, kann man nicht mit absoluter Sicherheit sagen, obwohl es höchst
Weitere Kostenlose Bücher