Blutiger Spessart
gegenüber das Hochplateau Massenbuch. Schnell verdrängte er die unangenehmen Gedanken, die ihn mit diesem Ort verbanden. Jetzt würde er erst einmal mit seiner Vertreterin einen Gang durch die Behörde machen, um alle Mitarbeiter persönlich kennenzulernen. Der erste Tag in seiner neuen Aufgabe würde sicher sehr ausgefüllt sein. Kerner spürte, dass er sich hier wohlfühlen könnte, wenn nicht die Hypothek des von ihm verschuldeten Todes von Ricardo Emolino auf ihm lasten würde. Vielleicht gelang es ihm, diese Schuld irgendwann aus seinem Gedächtnis zu verdrängen.
Kerner drehte sich zur Seite und wandte sich seinem Computer zu. Er startete das Gerät und wartete, bis es sich hochgefahren hatte. Nachdem die Justiz insgesamt in einem Intranet eingebunden war, standen ihm auch an der neuen Dienststelle die Daten seines E-Mail-Benutzerkontos zur Verfügung. Er wollte zuerst einmal seine Mails checken.
Da kam ein Anruf auf seinem Handy. Ein Blick auf das Display sagte ihm, dass es Brunner war. Kerner beschlich sofort ein dumpfes Gefühl, das ihm sagte, dass Ärger in der Luft lag. Brunner hätte ihn sonst so kurz nach seinem Dienstantritt in Gemünden nicht angerufen. Er nahm das Gespräch an.
»Gut, dass ich dich erreiche«, legte Brunner ohne Einleitung los. »Ich weiß ja, heute ist dein erster Tag in Gemünden und du hast Stress, aber es gibt Neuigkeiten, die du wissen solltest. Stell dir vor, wir haben heute früh im Wald in der Nähe von Partenstein eine männliche Leiche gefunden. Besser gesagt eine Joggerin hat sie gefunden.«
Diese Worte trafen Kerner wie ein Dampfhammer. In seinen Alpträumen hatte er diese Szene immer wieder durchlebt, jetzt war sie Realität geworden. Sein Magen zog sich zusammen.
Brunner nahm aber gar nicht zur Kenntnis, dass sein Gesprächspartner nichts entgegnete. Flott redete er weiter.
»Sie muss schon einige Zeit dort gelegen haben, denn die Wildtiere haben sie übel zugerichtet. Der Kopf ist noch einigermaßen erhalten. Wir haben dem Toten Fingerabdrücke abgenommen und sie gleich durch den Computer gejagt. Stell dir vor, es handelt sich tatsächlich um Ricardo Emolino! Jetzt wissen wir auch, warum er schon seit einiger Zeit von den Überwachungsteams nicht mehr gesehen wurde.«
Kerner musste jetzt etwas sagen, sonst fiel das auf.
»Das ist ja wirklich der Hammer«, quälte er sich ab, »gibt es denn Hinweise, wie er ums Leben gekommen ist?« Diese Frage war unverdächtig. Sie bekundete sein Interesse. Alles andere wäre verwunderlich gewesen.
»Der Gerichtsmediziner vermutet, dass er erschossen wurde, aber das kann man erst nach der Obduktion mit Gewissheit sagen. Leider war der Körper schon ziemlich ramponiert.«
»Da bin ich wirklich sprachlos«, gab Kerner zurück. »Danke, dass du mich gleich informiert hast. Halte mich doch bitte unbedingt auf dem Laufenden. Sei mir bitte nicht böse, aber ich muss jetzt Schluss machen, weil mich meine Pflichten als Direktor rufen. Du verstehst?«
Brunner verstand und verabschiedete sich.
Kerner ließ sich geschockt in seinen Sessel zurückfallen. Der Moment, vor dem er sich so gefürchtet hatte, war eingetreten. Viel früher, als erwartet. War jetzt alles aus? Sollte er gleich zu Brunner gehen und ihm alles gestehen?
In diesem Augenblick klopfte es an seine Tür. Er riss sich zusammen, setzte sich aufrecht und rief »Herein.«
Seine Stellvertreterin kam, um mit ihm zusammen einen Hausrundgang zu machen. Er zwang sich zu einem Lächeln und zog sein Jackett an. »Na, dann wollen wir mal!«, rief er aufgesetzt locker und folgte ihr in den Hausflur.
Das Problem musste zwangsläufig noch warten. Er durfte nicht panisch reagieren. Seine nächsten Schritte musste er sich genau überlegen. Dazu brauchte er Ruhe.
31
Am nächsten Morgen, kurz nach Dienstantritt, griff der Leiter der Sonderkommission
Spessartblues
zum Telefon und wählte die Nummer des Instituts für Rechtsmedizin. Heute sollte das Ergebnis der Obduktion von Ricardo Emolinos Leiche vorliegen. Der Rechtsmediziner hatte bei der Untersuchung des Toten im Wald schon vermutet, dass der Junge erschossen worden war. Durch den Tierfraß waren die körperlichen Gegebenheiten zwar so verändert gewesen, dass er nur einen Verdacht hatte, aber jetzt würde der Wissenschaftler sicher Gewissheit haben.
Einen Moment später war er mit Dr. Patschler verbunden, der die Obduktion durchgeführt hatte.
»Guten Morgen, Herr Brunner, Sie wollen wissen, was wir bei der Leiche aus dem
Weitere Kostenlose Bücher