Blutiger Spessart
Übergangszeit ungestörter regeln können.
Plötzlich lehnte er sich im Bürostuhl zurück und blickte nachdenklich auf ein Landschaftsgemälde, das ihm gegenüber an der Wand hing. Schließlich zog er die Schublade des Schreibtisches auf. Die Beweisstücke in Form der Patronenhülse und des deformierten Projektils, die Kerners Täterschaft nachwiesen, lagen noch immer in der Plastiktüte. Stumme Zeugen des menschlichen Versagens eines Oberstaatsanwalts.
Trospanini hatte sich oft über Ricardo geärgert, weil er ein leichtsinniger Bursche war, aber unter dem Strich mochte er ihn. Dieser Kerner hatte den Emolino-Klan zuerst mit allen legalen Mitteln gnadenlos verfolgt. Als diese nicht zum Erfolg führten, war er vermutlich ausgerastet und hatte Emolino an seiner empfindlichsten Stelle treffen wollen, indem er seinen Sohn erschoss. Unglaublich, aber offensichtlich wahr. Und jetzt machte der Kerl Karriere, obwohl er ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte.
Nach den ungeschriebenen Gesetzen der Mafia war nun Kerners Leben zu nehmen. Es war keine Sentimentalität gegenüber Emolino, aber als zukünftiger Pate sollte er der Familie Genugtuung verschaffen. Das würde sich herumsprechen, und man würde ihn respektieren.
Trospanini nahm sich vor, noch etwas zu warten, bis er sich richtig etabliert hatte, dann würde er Kerner Post mit einer tödlichen Botschaft des Emolino-Klans schicken.
30
Am Montag, kurz nach acht Uhr, parkte Simon Kerner seinen Defender auf dem kleinen Parkplatz des Amtsgerichts. Langsam schlenderte der frisch gebackene Direktor des Amtsgerichts Gemünden am Main den gepflegt bepflanzten Weg zum Haupteingang entlang. Das historische Gebäude aus dem Jahre 1903 war frisch renoviert und machte schon etwas her. Er nahm alle Eindrücke in sich auf. Dieses Haus und die rund siebzig Behördenmitglieder waren ihm nun anvertraut. Außerdem war er jetzt Richter, nicht mehr Strafverfolger, der bei aller erforderlichen Objektivität in erster Linie die Überführung und Verurteilung eines Angeklagten im Auge haben musste.
Nachdem er die äußere Eingangstüre durchschritten hatte, befand er sich am Sicherheitspunkt des Eingangsbereichs. Zwei bewaffnete Justizwachtmeister, die die Personenkontrollen durchführten, sahen ihm aufmerksam entgegen. Als sie ihn erkannten, grüßten sie freundlich. Zugleich musterten sie ihn neugierig von Kopf bis Fuß. So würde es ihm wohl heute den ganzen Tag ergehen. Jeder Mitarbeiter des Hauses machte sich natürlich seine Gedanken über den Neuen. Wie würde er sein? War er freundlich oder schroff, jovial oder arrogant, verständnisvoll und mitarbeiterfreundlich? Fragen, die sich sicher erst in den nächsten Wochen und Monaten beantworten lassen würden.
Kerner gab den Männern die Hand und sprach freundlich ein paar verbindliche Begrüßungsworte. Mit innerer Befriedigung stellte er fest, dass der Sicherheitsstandard des Gerichts recht hoch war. Hier kam niemand unkontrolliert herein. Er betrat das Treppenhaus, das als Verbindung zwischen Alt- und Neubau diente. Die Besonderheit dieses Hauses bestand darin, dass sich die beiden Gebäudeteile in Halbstockwerke gliederten, wodurch das Gebäude über sechs nicht ganz vollwertige Stockwerke verfügte.
Kerner ließ den Aufzug links liegen und stieg zu Fuß zum fünften Stock empor, wo er wohl für einige Jahre residieren würde. Als er kurz darauf das Sekretariat der Verwaltungsabteilung betrat, kam ihm der Verwaltungschef entgegen, sein zukünftiger engster Mitarbeiter.
»Herzlichen willkommen in Gemünden, Herr Kerner.«
Die Chefsekretärin, eine erfahrene Beamtin mit Charme und herzlicher Ausstrahlung, gab ihm ebenfalls die Hand und hielt die Türe zu seinem neuen Dienstzimmer auf.
Er betrat den sonnendurchfluteten Raum, der um einiges größer war als sein Büro in Würzburg. Man hatte zu seiner Begrüßung einen bunten Strauß Blumen auf den ovalen Besprechungstisch gestellt.
»Ist es recht, wenn ich Ihnen morgens eine Kanne Kaffee reinstelle, oder trinken Sie lieber Tee?«
»Das ist sehr freundlich. Bitte Kaffee.«
Sie lächelte und nickte.
»Wenn Sie etwas benötigen, ich bin hier«, erklärte sie und schloss leise die Türe. Kerner stellte seinen Aktenkoffer neben den Schreibtisch und ließ sich in den bequemen Bürosessel fallen. Da war er also jetzt. Durch das gegenüberliegende Fenster konnte er auf einen der bewaldeten Hügel des Spessarts blicken. Seiner Einschätzung nach befand sich ziemlich genau
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