Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
Zum Vorschein kamen eine kleine gläserne Phiole und die Überreste einer toten Krähe. Die Brust des Vogels war eingefallen, und fahl schimmerten einige verdorrte Knochen durch das schwarze Gefieder. Die Alte streichelte dem Tier liebevoll über das matte Gefieder und öffnete das Fläschchen. Stumm zählte sie die Tropfen, die sie zu dem Rotwein in die Schale träufelte. Die ölige Flüssigkeit verteilte sich auf der Oberfläche und begann, in schillernden Farben Schlieren zu ziehen. Immer weiter verformte sich das regenbogenfarbene Schlierennetz, bis sich schließlich ein tumb und brutal wirkendes Gesicht daraus formte. Eine breite Stirn und wulstige Augenbrauen unterstrichen die dunklen, gefühllosen Augen. Ein kantiges Kinn prangte unter dem breiten Mund, dessen Lippen die zwei Hauer nicht zu verbergen vermochten. Das lange, dunkle und fettige Haar war zu wenigen Zöpfen geflochten. Dort, aus dem Wein, starrte der Alten das Gesicht eines Ogers entgegen.
Die Greisin nahm die tote Krähe in die Hand und stippte deren Schnabel in die Schale. Dann legte sie den Vogel zurück auf den Tisch. Nach einem kurzen Moment begann dieser, sich zu regen. Er rappelte sich auf. Ein Bein fehlte ihm, und der Vogel musste sich mit den Flügeln abstützen, um nicht wieder umzufallen. Das Gefieder war matt und wies an etlichen Stellen Löcher auf. Die Augenhöhlen der Krähe waren hohl und leer.
»Bocco Talis, Bocco Talis, warum hast du mich gerufen?«, krächzte der Vogel.
»Erzähl mir die Geschichte von diesem Kind Tabals«, forderte die Alte.
»Niemals wirst du seinen Schmerz bekommen. Er gehört allein den Göttern, und das weißt du, Bocco.«
»Erzähl mir trotzdem die Geschichte«, sagte die Alte gelangweilt.
Die Krähe hüpfte unbeholfen neben die Schale und pickte mit dem Schnabel gegen den Bronzerand. Das Bildnis des Ogers geriet in Bewegung, und der gefiederte Kadaver begann zu erzählen:
Sein Name ist Mogda, krächzte die Krähe. Noch vor wenigen Jahren unterschied ihn nichts von anderen Ogern. Er war tumb, faul und verfressen, wie die meisten seines Volkes es sind. Er lebte davon, das Vieh der Menschen in Nelbor zu stehlen. Er versteckte sich in den Wäldern und Bergen, bis sein Hunger ihn wieder hinaustrieb.
Eines Tages vergriff er sich an dem Hab und Gut des alten Meisters Trebor, einem Magier, der sich im Wald einen Turm erbaut und sich zur Ruhe gesetzt hatte. Mogda gelang es, sich der Magie des Zauberers zu erwehren, wenn ihm dabei auch mehr Glück als Verstand beschieden war; er tötete den Magus. Unter den Sachen des Verstorbenen fand Mogda auch ein Amulett, das er arglos überstreifte. Damit hatten die Götter sein Schicksal besiegelt. Denn das Amulett besaß magische Kräfte und verlieh Mogda etwas, das er vorher nicht gekannt hatte: Intelligenz.
Die alte Bocco lachte entzückt auf. »Haha, das ist einfach köstlich. Ein schlauer Oger, was sagt man dazu? Da kommen kein Minnesänger und kein Possenschwinger mit, die lustigsten Geschichten schreibt das Schicksal selbst.«
»Unterbrich mich nicht«, krächzte der Rabe ärgerlich und fuhr fort:
Kurz entschlossen machte Mogda den Magierturm zu seinem Winterquartier. Seine neuen Fähigkeiten erlaubten es ihm, die Bibliothek des Magiers zu nutzen. Sein Wissen über Land und Leute vergrößerte sich von Tag zu Tag. Gierig verschlang er alle Aufzeichnungen, die er finden konnte. Mogda hatte plötzlich viele Fragen. Von einem alten verarmten Bauern namens Usil, den er als Gefangenen nahm, ließ er sich viele dieser neuen Fragen beantworten. Aus der anfänglichen Feindschaft wurde Freundschaft, und der erste Schritt zur Verständigung der beiden Völker war getan.
Im nächsten Frühjahr riefen die Nesselschrecken, eine uralte Rasse aus den Tiefen des Meeres, die Kreaturen Tabals zum Krieg gegen die Menschen auf. Auch den schlauen Oger ereilte dieser Ruf, und er folgte ihm, denn wer sich widersetzte, wurde getötet. Doch Mogda erkannte die Knechtschaft, in die er geraten war. Von weit her wurden Orks, Oger, Trolle und Goblins herbeigeholt. Mit vereinten Kräften bezwangen sie die Drachen in der roten Wüste und bewohnten fortan das Gebirge, das seit Jahrtausenden den Drachen als Heimat gedient hatte.«
»Diese nichtsnutzigen fetten Vasallen Tabals. Sie töteten die Begründer dieser Welt und verstehen es noch nicht einmal. Jemand muss sie zur Rechenschaft ...« Bocco hielt inne. Sie wusste, wie ungern der Vogel bei seinen Ausführungen unterbrochen
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