Blutiges Eis
Cardinal kämpfte gegen eine Panikattacke an.
»Er bekam schlecht Luft«, fuhr Catherine fort. »Ich hatte ihn zu Hause abgesetzt, und er räumte gerade Lebensmittel ein, als er plötzlich dachte, ihm bliebe die Luft weg. Jedenfalls hat er seinen Kardiologen angerufen – der Gott sei Dank einen Krankenwagen gerufen hat –, und jetzt ist er in der Intensivstation.«
Sein Vater wirkte in mancherlei Hinsicht unverwüstlich, doch Cardinal hatte auf einmal Angst, dass er pflegebedürftig werden könnte, dass er bei Cardinal und Catherine wohnen und sie über seine letzten Monate oder Jahre wachen, ihm die Windeln wechseln müssten. Dann holte ihn sein katholisches Gewissen ein und drohte, ihn für diesen egoistischen Gedanken mit dem Fegefeuer zu bestrafen.
Auf der Intensivstation erfuhren sie, dass Stan Cardinal in die Kardiologie auf dem vierten Stock verlegt worden war. Die Schwester versicherte Cardinal, sein Vater habe keine Beschwerden mehr und müsse nur noch ein wenig ruhen. »Wir haben seine Medikamente raufgesetzt, und es scheint ihm gut zu bekommen. Ich vermute, er wird morgen entlassen.«
»Kann ich zu ihm?«
»Möglichst nicht länger als fünf Minuten. Wir wollen ihn nicht erschöpfen.«
»Welches Zimmer?«
»Er liegt leider in einer der ›Mantis-Suiten‹, einem der Flure mit abgeteilten Schlafbereichen.«
»Moment mal. Mein Vater hat Herzinsuffizienz, und Sie sagen, Sie haben ihn im Flur abgestellt?«
»Tut mir leid. Kapazitätsabbau dank der Regierung. Ein Bett im Flur ist alles, was wir im Moment für ihn tun können.«
»Ich war schon bei ihm«, sagte Catherine liebevoll. »Soll ich hier auf dich warten?«
Es gab drei so genannte Mantis-Suiten. Cardinals Vater war in der letzten, der Vorhang seines Abteils war zurückgezogen, so dass er durch das Fenster mit Blick über Eisenbahnschienen und den Schulhof der Algonquin Highschool etwas Licht bekam. Die Scheibe war vom Regen verschwommen.
Das Kopfende war auf einen Dreißig-Grad-Winkel hochgestellt. Stan Cardinal lag tief in die Kissen gesunken, sein Kopf hing zu einer Seite herunter, als ob das Gewicht des durchsichtigen Plastikschlauchs, der an seinen Nasenlöchern festgeklebt war, an ihm zerrte. Er hatte die Augen geschlossen, doch als Cardinal herantrat, schlug er sie auf.
»Sieh an, wen haben wir denn da!« Die Stimme seines Vaters klang viel kräftiger, als er aussah. »Der Arm des Gesetzes.«
»Wie fühlst du dich?«
»Als ob ein Elefant auf meiner Brust säße. Aber es ist schon besser. Vorher waren es noch zwei Elefanten und ein Rhinozeros.«
»Die Schwester sagt, sie schicken dich wahrscheinlich morgen nach Hause.«
»Ich wünschte, sie würden mich auf der Stelle nach Hause schicken.«
»Auf jeden Fall sind sie offenbar mit deinem Zustand zufrieden.«Cardinal konnte den geheuchelten Optimismus in seiner eigenen Stimme hören.
»Ich fühl mich gut. Wirklich. Ich hab den Kardiologen nur angerufen, weil ich ein Rezept brauchte. Ich konnte ja nicht wissen, dass der gleich zuschlägt und den Krankenwagen bestellt.«
»Na ja, du hattest ihn vermutlich nötig.«
Sein Vater zuckte nur die Achseln. Seine Haut war grau und pergamentartig, seine Augen schwammen.
»Hast du alles? Soll ich die Schwester rufen?«
»Mir fehlt nichts, verflixt noch mal. Ich will nur nach Hause. Wie zum Teufel soll man in einem Krankenhaus gesund werden? Was du wirklich brauchst, ist deine gewohnte Umgebung. Deine eigenen Sachen, dein eigener Fernseher, deine eigene Kanne, in der du dir deinen Tee selber kochst. Hier bist du ganz und gar auf andere angewiesen. Du klingelst dir die Finger wund, und sie kommen mal vorbeispaziert, wenn’s ihnen gerade passt. Zu Hause kann ich mir machen, was ich will, wann ich es will. Ich bin nicht darauf angewiesen, dass diese Püppchen in Weiß es mir bringen.«
»Ich geh jetzt besser mal. Sie haben gesagt, ich soll nicht lange bleiben.«
»Klar, mach, dass du rauskommst. Ich ruf dich an, sobald sie mir die Entlassungspapiere geben.«
Auf dem Heimweg lehnte sich Catherine zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Vielleicht sollte dein Dad eine Weile zu uns kommen. Weißt du, wenn die Ärzte sagen, er bräuchte immer jemanden in seiner Nähe, dann kann er bei uns wohnen. Ich wär damit einverstanden, falls du es wärst. Ich würde es sonst nicht sagen.«
»Ich glaube sowieso nicht, dass er zu uns ziehen würde«, sagte Cardinal. »Weißt du, als Mom starb, war ich nicht sicher, ob er es schafft,
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