Blutiges Schweigen
unsicher gemacht. Aber ich bin nicht sicher, in welchen Lokalen sie waren.«
»Und wo sind Sie mit ihr hingefahren?«
»Wir waren häufig auf dem Land — im Peak District, Lake District, den Yorkshire Dales. Caroline und ich lieben die freie Natur. In London glaubt man nach einer Weile zu ersticken. Wir haben Megan mit in den Norden genommen, sobald sie laufen konnte.«
»Glauben Sie, sie könnte an einem dieser Orte sein?«
Er zuckte die Schultern. »Ich kann mir keinen Grund vorstellen,
warum sie in den Norden gefahren sein sollte. Ich weiß ja nicht einmal, warum sie überhaupt fort ist.«
Ich hatte die beiden zwar am Vortag schon gefragt, ob sie einen Freund gehabt hatte, doch ich wollte mit jedem einzeln darüber sprechen. Was man bei der Suche nach vermissten Personen rasch lernte, war, dass es in jeder Ehe Geheimnisse gab — und dass einer der beiden Partner stets mehr wusste als der andere, insbesondere, wenn es um den Nachwuchs ging. »Soweit Ihnen bekannt ist, hatte sie also keinen Freund?«
»Soweit mir bekannt ist.«
»Und was sagt Ihnen Ihr Gefühl?«
»Dass sie möglicherweise jemanden kennengelernt hat.« Er rutschte an die Sesselkante. »Wäre das in Ihren Augen ein gutes Zeichen?«
»Ich denke, es lohnt sich, das weiterzuverfolgen. Jugendliche in Megans Alter verschwinden normalerweise aus zwei Gründen: Entweder sind sie zu Hause unglücklich, oder sie sind mit jemandem durchgebrannt — wahrscheinlich mit jemandem, der vor den Augen der Eltern keine Gnade gefunden hätte. Das mit dem unglücklichen Zuhause scheint hier nicht zuzutreffen, und das ist der Grund, warum ich mich für einen möglichen Freund interessiere. Vielleicht ist Megan ja nicht mit einem Freund weggelaufen.« Ich hielt inne und betrachtete ihn. »Vielleicht aber schon.«
»In diesem Fall hätte sie doch unsere Pressekonferenzen sehen müssen. Die Megan, die ich kenne, hätte das nicht einfach ignoriert. Sie hätte uns nie solche Sorgen gemacht, sondern uns angerufen.«
Ich blickte ihn an und wandte mich ab. Er hatte die Antwort in meinen Augen gelesen, und es war nicht die, die er sich wünschte. Nämlich, dass sie möglicherweise nicht mehr lebendig nach Hause kommen würde.
Megans Zimmer war wunderschön eingerichtet. Seit ihrem Verschwinden war hier fast nichts angerührt worden. Ein großes Panoramafenster bot Aussicht auf Hampstead Heath und wurde von Schränken flankiert. Rechts davon stand ein Bücherschrank mit drei Regalbrettern, in dem sich naturwissenschaftliche Bücher stapelten. Gegenüber dem Fenster in der Nähe der Tür befand sich ein kleiner Schreibtisch mit dem allerneuesten MacBook — noch aufgeklappt — darauf. Rings um den Laptop waren Fotos angeordnet: Megan mit ihren Freundinnen, Megan mit Baby Leigh im Arm, Megan mit Mum und Dad. In einer Zimmerecke entdeckte ich einen Schaukelstuhl, auf dem Stofftiere saßen. Darüber an der Wand hing ein Poster, das einen Mädchenschwarm aus Hollywood mit markanten Gesichtszügen zeigte.
Ich fuhr das MacBook hoch und durchsuchte es. Der Desktop war praktisch leer. Alles war fein säuberlich in Ordnern organisiert. Hausaufgaben. Word-Dokumente. Universitätsbroschüren als PDF-Dateien. Ich klickte Safari an und überprüfte ihre Lesezeichen, ihre Verläufe, ihre Cookies und ihre letzten Downloads. Doch bis auf ein paar illegal heruntergeladene Musikstücke war nichts Auffälliges dabei. In ihrem Browser gab es einen Link zu ihrem Facebook-Profil. E-Mail und Passwort wurden automatisch eingeloggt. Doch die einzige Aktivität der letzten sieben Monate war die Gründung einer Gruppe, die ihr Andenken pflegte. Nach den Kommentaren der meisten Mitglieder zu urteilen, nahm man nicht an, dass sie je wieder nach Hause kommen würde.
Beide Schränke waren voller Kleider und Schuhe. Doch im zweiten Schrank waren hinten einige Aufbewahrungsboxen aus Plastik gestapelt. Ich nahm sie heraus und öffnete die oberste Box. Sie war voller Fotos. Je jünger Megan auf den Bildern war, desto weniger ähnelte sie ihrem Vater. Als kleines Mädchen war sie ein wenig hellhäutiger gewesen und
hatte auffällig weißblondes Haar gehabt. Die neueren Fotos waren nicht so abgegriffen. Ihre Eltern sahen darauf älter aus, und Megans Gesicht wurde immer mehr zum Spiegelbild von dem ihres Vaters.
Ich öffnete die nächste Box.
Sie enthielt eine Digitalkamera. Ich schaltete sie ein und fing an, die Fotos durchzuschauen. Insgesamt waren es achtundzwanzig, fast alle von Leigh.
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