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Blutinsel

Blutinsel

Titel: Blutinsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Hefner
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schätzungsweiße zwei Kilometer vom Dorf entfernt war, meinte er sogar, einige Menschen dort unten erkennen zu können. Im Hintergrund erhob sich ein großes Gebäude, das aus hellrotem Holz errichtet war. In irgendeinem dieser Häuser wohnte Tylers Kontaktmann. Ihn musste er ausfindig machen, denn er war der Schlüssel zum Reichtum. Tyler hatte ihm nie seinen Namen genannt, doch das Haus, den Garten und die kleine rote Bank rechts neben der Tür, auf der Tyler früher oft gesessen und Pfeife geraucht hatte, hatte er bis ins Detail beschrieben.
    Einen Augenblick lang verharrte er. Was würde er dafür geben, wenn er sich einfach dort unten im Dorf unter die Leute mischen könnte. Und niemand würde fragen, wer er ist und woher er kommt, niemand würde ihn wieder dorthin schicken, wo er herkam, nach Cedar Junction in eine feuchte, muffige Zelle!
    Im Schutze des Waldrandes schlich er sich voran. Ein klein wenig näher an das Dorf heranzukommen, konnte nicht schaden. Der kleine Hafen, an dem unzählige Boote lagen, kam in sein Sichtfeld. Pilze wuchsen am Boden. Verdammt, in Biologie hatte er nie aufgepasst. Wahrscheinlich waren sie sogar essbar. Er erinnerte sich noch daran, dass irgendjemand mal gesagt hatte, wenn man den Pilz aus dem Boden gräbt und seine Lamellen sich nicht verfärben, dann könne man ihn bedenkenlos essen. Doch wie lang man warten musste, bis sich die Verfärbung einstellt, das wusste er nicht mehr. Er zog sein Taschenmesser hervor, das er im Haus auf Bartol Island mitgenommen hatte, und bückte sich. Er löste einen Pilz aus dem feuchten Erdreich und roch an ihm. Ein Duft von Erde stieg ihm in die Nase. Er hob den Kopf. Plötzlich verharrte er, es war, als wäre er gegen eine imaginäre Wand gelaufen. Er ließ den Pilz und das Taschenmesser fallen und wich ein paar Schritte zurück, bis er über einen kniehohen Busch stolperte. Mit schreckensstarren Augen schaute er auf den Mann, der kopfüber an einem dicken, blattlosen Ast einer Birke knapp zwei Meter über dem Boden baumelte. Das Gesicht des Mannes war blutrot gefärbt, und seine offenen Augen starrten ihn leblos an. Noch etwas fiel ihm auf: Die Ohren des Toten fehlten.
    Panisch blickte sich Duval um. Er raffte sich auf und rannte – rannte wie noch nie in seinem Leben. Mitten hinein in den Wald, immer weiter, brach durch Gestrüpp, das seine Wangen aufriss, und sprang über Farne und Wurzeln. So lange, bis sein Blut im Kopf rauschte und er irgendwo mitten im Anglewood kraftlos zu Boden sank.
    Welcher Teufel hatte das getan?
    Bartol Island, Freeport, Yarmouth County, Maine,
    18 . März 2007 , 13 . 55 Uhr (Sonntag)
    Noah Fleischman hatte sich über die Motorhaube des Streifenwagens gebeugt und studierte sorgfältig die Karte. Der Golf von Maine und der Küstenstreifen des Yarmouth County waren darauf im Maßstab 1:50 000 abgebildet. Ein riesiges Gebiet voller Inseln, die nur teilweise bewohnt waren. Tyler und Duval konnten überall stecken. Zwar hatten sie die Halbinsel von Bartol Island hinter sich gelassen und waren mit einem gestohlenen Motorboot hinaus in den Golf geschippert, doch bei Pound of Tee, wo die Bucht sich dem Golf öffnete, verlor sich ihre Spur.
    Mittlerweile galt es aufgrund aufgefundener Fingerabdrücke im Haus auf Bartol Island und dem zurückgelassenen Wagen als gesichert, dass Duval und Tyler zusammen unterwegs waren und offenbar das Wirrwarr von Inseln, kleinen unbewohnten Eilanden und blanken Felsen im Golf der tausend Inseln zum Entkommen nutzen wollten. Oder verbarg sich etwas anderes hinter dieser Flucht hinaus aufs Meer? Fleischman hatte sich die Akte von Duval und Tyler übermitteln lassen und sie den Vormittag über aufmerksam studiert. Auch die Berichte der Aufseher in Cedar Junction hatte er gesichtet, und ihm war klar, dass Wesley Tyler und der beinahe zwölf Jahre jüngere Frank Duval nach ihrer langen gemeinsamen Zeit in einer Zelle des Bundesgefängnisses so etwas wie Bundesgenossen geworden waren. Duval war ein tumber, eher planloser Mensch, der wegen verschiedener Gewaltdelikte einsaß, die ihn im Leben kaum weitergebracht hatten, außer dass er vielleicht sein Ego bis zum Exzess ausleben konnte. Bei Tyler war es anders, er hatte etwas erreicht, er hatte Verbrechen begangen, um sein Leben finanzieren zu können. Anfänglich hatte er dabei auf Gewalt verzichtet und seine Intelligenz eingesetzt, um seine Ziele zu erreichen. Doch am Ende, bei seinem größten Coup, war plötzlich alles aus dem Ruder gelaufen.

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