Blutjägerin (German Edition)
überging.
Der Moment blieb aus. Weder spürte er die Schwingungen des Herzschlages noch war er in der Lage, die Gedanken jenes Menschen zu lesen, von dem es genommen worden war. Dieses Blut war schwach und enttäuschend. Es würde seinen Durst nur für wenige Stunden stillen, so wie fast jedes Blut, das er nicht aus der Ader, sondern der Konserve trank.
In Augenblicken wie diesen hatte er es satt, so leben zu müssen. Er sehnte sich nach jener Zeit, in der er noch die Freiheit genießen durfte, nachts zu jagen. Sein letzter Biss lag so unendlich lange zurück, dass er fast vergessen hatte, wie es sich anfühlte, die Fänge in eine Ader zu tauchen. Nur vage blieb die Erinnerung, wie sich der Geschmack des vom Herzen kommenden Blutes in seinem Mund ausbreitete. Der bloße Gedanke trieb die Eckzähne aus seinem Oberkiefer, doch mehr als eine Erinnerung war ihm nicht vergönnt, nicht heute und an keinem anderen Tag in seinem zukünftigen Leben. Diese immer wiederkehrende Gewissheit drückte noch mehr auf seine Stimmung.
Aber er konnte nichts dagegen tun. Die Zeiten hatten sich geändert und er hatte gelernt, mit den Entbehrungen zu leben, sie zu akzeptieren und seine Verbitterung vor anderen seines Volkes zu verbergen, auch wenn es ihn innerlich zerriss. Die Freiheit der Jagd hatte sein Volk an den Rand des Untergangs getrieben und er erinnerte sich nur zu gut an diese finsteren Jahre.
Auf der einen Seite war es der jahrhundertealte Krieg gegen die Vampirjäger, der sich mit der Waffenentwicklung des Zweiten Weltkrieges zugespitzt und ihre menschlichen Feinde zu gleichwertigen Gegnern gemacht hatte. Doch es war nicht nur der Kampf mit den Jägern, auch neuartige Bedrohungen wie das HIV-Virus breiteten sich aus. Anders als die alten Krankheiten und Seuchen waren diese auch für einen Vampir ansteckend und im Falle des HIV-Virus raffte dieses einen Infizierten seiner Spezies innerhalb nur eines Tages dahin. Er hatte mehr als einen daran sterben sehen, von Schmerzen und einer Art Mumifizierung geplagt. Ein Anblick, der sich in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte und dessen Bilder selbst jemanden wie ihn, der Tod und Leid zu bewältigen gelernt hatte, nicht ungerührt ließen.
Krieg und Krankheiten hatten so viele seines Volkes getötet, dass ihre Anzahl in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts auf wenige Tausend geschrumpft war und das Ende unumkehrbar erschien. Nur die Gründung des Vampirrates durch André Barov hatte den sicheren Untergang abgewendet.
André Barov, der dem alten Herrschergeschlecht der Vampire entstammte, war es gelungen, die acht ältesten Familien, zu denen auch der Clan der Vermonts zählte, zu einen. Schon bald entschieden weitere Clans, sich dem Rat anzuschließen, der von nun an Gesetze erließ, die dem Schutz und dem Überleben der Vampirrasse dienten. Es waren Gesetze, die vor allem eines bedeuteten: Entbehrungen.
Seit der Gründung des Rates oblag es Gerald und seiner Familie, die Sicherheitsagentur zu leiten und sich darum zu kümmern,dass die Existenz der Vampire verborgen blieb.
Verdammt, sie hatten das große Los gezogen.
Er drehte die Phiole in der Hand, betrachtete durch die Öffnung, wie ein letzter Tropfen zurück auf den Boden des Fläschchens glitt. Entbehrungen. Das Wort hallte wie ein Echo durch seinen Kopf.
Er atmete durch und zerdrückte das kunstvolle Behältnis in seiner Hand. Knirschend zerbröselte das Glas, rieselte als glitzernder Staub auf das Parkett. Übrig blieb die zerknautschte metallene Seele, die Gerald auf den Beistelltisch legte. Die Schnittwunden in seiner Handfläche schlossen sich wie im Zeitraffer, ohne eine Narbe zu hinterlassen. Nur der Schmerz blieb für einige Minuten. Er genoss es. Es ließ ihn spüren, dass trotz der inneren Kälte, die er seit einiger Zeit empfand, zumindest noch ein Funken Leben in seinem Körper steckte.
Er ließ die Hände an den Seiten des Lehnstuhls hinuntergleiten und sank in die Polsterung. Seit Wochen fühlte er sich müde und ausgebrannt, auch wenn er alles daran setzte, es nach außen hin zu verbergen. Nach den Jahrzehnten der Ruhe, in denen die Erinnerung der alten Generationen an die finsteren Jahre noch frisch war und es kaum Widerstand gegen die harten Gesetze des Rates gab, war im vergangenen Frühjahr ein Vampir namens Zacharias aufgetaucht. Aus persönlichen Racheplänen gegen André Barov hatte er eine Revolution angezettelt, die sich schnell ausgeweitet hatte und selbst nach Zacharias Tod war die erhoffte
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