Blutjägerin (German Edition)
knochige Finger glitten unter dem Stoff hervor, umfassten die Kapuze und warfen sie mit einem kräftigen Ruck zurück. „Lediglich verflucht.“
Der Jäger wich erschreckt zurück. Ein eisiger Schauder lief über seinen Rücken und der Schock drückte so heftig auf die Brust, dass ihm die Luft wegblieb. Von dem einst vertrauten Antlitz war nur wenig übrig. Stattdessen starrte er in die Fratze eines Monsters, halb Mensch, halb fellloser Wolf, umspannt von faltigen Hautwülsten. Eine mörderische Zahnreihe schmückte das Maul und nur die dunklen Augen strahlten dieses letzte bisschen Vertrautheit aus.
„Aber …“ Seine Stimme versagte, erstarb in einem Keuchen.
„Die Zeit ist gekommen, einem alten Plan zu folgen, um unsere Feinde auszulöschen“, fabulierte die Gestalt, die einmal sein Vater gewesen war.
S ophie Lacostes Blick ruhte auf dem Grab ihrer Mutter. Selbst im Winter machte es einen gepflegten Eindruck. Die Blumen waren entfernt worden, um Platz zu schaffen für die Sprösslinge des kommenden Frühlings. Die Erde bedeckte eine mit Blüten bedruckte Plastikfolie, beschwert mit den Ziersteinen, die ansonsten das Grabgärtchen schmückten, damit der Wind die Plane nicht davonwehte. Ihr Vater hatte an alles gedacht, nur anscheinend nicht an den heutigen Tag.
Jedes Mal, wenn Sophie die letzte Ruhestätte ihrer Mutter besuchte, sah das Grab ein klein wenig anders aus. Hier ein neuer Stein, dort eine zusätzliche Laterne. Im Winter wechselte Vater wöchentlich die Plane, als würde er ein Bett frisch überziehen. Einmal hatte eine Frau sie gefragt, ob ihr Vater aufgrund des Todes seiner Frau den Verstand verloren habe. Verrückt war er, keine Frage, aber nicht deswegen.
Sophie bückte sich, öffnete mit kalten, steifen Fingern das Häkchen an einer der schmiedeeisernen Laternen und stellte ein Grablicht hinein, das sie mit dem Feuerzeug anzündete. Der gelbe Lichtschein der Flamme fiel auf den weißen Granitstein. Eine Eisschicht bedeckte die mit Blattgold verzierte Schrift wie eine gläserne Versiegelung.
Ruhe in Frieden.
Deine Stimme bleibt für immer in unseren Herzen.
Anais Lacoste
geboren am 15. April 1961
gestorben am 11. Januar 1998
Zehn Jahre waren vergangen, seit ihre Mutter im Burgtheater ermordet worden war und obwohl Sophie es war, die sie an jenem Nachmittag auf der Bühne gefunden hatte, war jede Erinnerung an diesen Moment wie weggefegt. Wie eine Seite aus einem Buch, die jemand herausgerissen und unwiederbringlich verbrannt hatte. Weder Hypnose noch irgendeine andere therapeutische Technik hatten es je geschafft, diese Stunden zurückzuholen. Nachdem auch ihr Vater nicht über diesen Tag sprechen wollte, musste sie sich mit dem begnügen, was die Zeitungen über den Mord geschrieben hatten.
In Anbetracht des zehnten Todestages wunderte es sie einmal mehr, dass ihr Vater noch nicht erschienen war. Er konnte es unmöglich vergessen haben.
Die Kerze zauberte ein tanzendes Lichtspiel auf den Grabstein und das Wachs verbreitete ein angenehmes Lavendelaroma. Sophie vergrub die Hände in den Jackentaschen. Es war kurz vor neunzehn Uhr. Die Dunkelheit war schon längere Zeit über den Friedhof hereingebrochen. Laternen beleuchteten die Wege und der leichte Bodennebel rundete das Bild einer schaurig schönen Umgebung ab, die so manchen davon abgehalten hätte, den Friedhof zu betreten. Für reguläre Besucher schlossen sich die Tore zu dieser Jahreszeit um siebzehn Uhr, doch das hatte Sophie nie gehindert, Mutters Grab zu besuchen. Sie hatte sich einen Schlüssel besorgt.
Sophie stellte sich erneut die Frage, wo ihr Vater blieb. Sie hatte ihn seit Wochen nicht gesehen, was nicht ungewöhnlich war. Es lag vor allem daran, dass sich ihr Verhältnis mit jedem Jahr abkühlte. Manchmal telefonierten sie und sprachen einige belanglose Worte oder er schrieb einen Brief. Ihr Vater verabscheute die modernen Kommunikationstechnologien wie E-Mails oder SMS.
Eben diese Briefe, in denen er versuchte, Sophie seine Sicht der Dinge zu erklären und sie immer wieder bat, zurückzukehren, ihren Platz an seiner Seite einzunehmen, machten es ihr noch schwerer, eine normale Vater-Tochter Beziehung aufzubauen. Sie liebte ihn wie eine Tochter ihren Vater nur lieben konnte, aber sein Fanatismus, mit dem er seiner angeblichen Bestimmung folgte, hatte vieles in ihrem Leben kaputtgemacht.
Trotz ihres schwierigen Verhältnisses fanden sie jedes Jahr am Grab zusammen, um gemeinsam zu trauern und ihre Differenzen für
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