Blutkirsche
Wieland pichelte ganz gerne, wenn sie auch immer behauptete, nur ein winziges Schlückchen zu trinken. Der Fernseher flimmerte lautlos. Anne schaltete den Bildschirm aus und deckte ihre Mutter mit einer Wolldecke zu. Auch wenn es tagsüber schon sommerlich warm war, hatte es durch das Gewitter abgekühlt. Die alte Dame erkältete sich leicht.
Zurück im Flur öffnete Anne den Dielenschrank. Der Inhalt des Schrankes hatte sich seit dem Umzug nicht verändert. Die Tür knarrte und Anne befürchtete, dass ihre Mutter aufwachen könnte. Irgendwo hier glaubte sie zuletzt die entwerteten Sparbücher gesehen zu haben. Weggeworfen wird in diesem Haus nichts – so hieß die Anweisung Magda Wielands.
In der hintersten Ecke des Schrankes, unter den mit Seidenbändern festgehaltenen Aussteuerhandtüchern, versteckte sich eine seegrüne Schachtel mit Briefen. Zwischen kleinen Stoffbeuteln mit Lavendelblüten, übergroßen Leinenservietten und Taschentüchern mit umhäkelter Spitze lagen leere Pralinenschachteln mit dem Aufdruck
Himmelreich
und
Sarotti
. Anne konnte sich erinnern, dass ihre Mutter die Schachteln sammelte und später mit losen billigen Pralinen füllte – als Geschenk für ihre Freundinnen. Ganz hinten entdeckte Anne einen uralten Schuhkarton voller vergilbter Fotografien.
Als Erstes fiel ihr eine Daguerrotypie in die Hände. Auf der Silberjodidplatte war eine Dame mit großem Hut abgelichtet. Ihre Großmutter?
|61| Mehrere Lichtbilder mit ihr fremden und ernst aussehenden Menschen konnte sie der Zeit um 1915 zuordnen. Ein Mann martialisch abgelichtet in Uniform und Gewehr. Zwei Kinder in Harlekinkostümen, die scheu in die Kamera blicken. Porträtaufnahmen verstorbener, unbekannter Verwandter, verewigt auf rechteckigem, dickem braunem oder beigefarbenem Karton, auf dessen unteren Rand in Goldschrift eingeprägt stand:
Jacob Zimmermann
,
Photographische Anstalt Cannstatt.
Anne stellte den Karton auf dem kleinen Tisch ab.
Sie entdeckte ein Album aus schwarzem Papier und einem roten Einband, in dem die Aufnahmen um 1920 anfingen. Beim Umblättern knisterte das gelb verfärbte Pergament spröde zwischen ihren Fingern. Auf einem Foto von 1939 stand Annes Großvater in einer SA-Uniform stolz vor dem Stuttgarter Rathaus.
Ab 1945 gähnten ihr nur noch leere Seiten im Album entgegen. Keine Fotos von ihrem Vater. Was war passiert?
Anne legte das Album zur Seite und nahm ein paar der vergilbten Aufnahmen aus der Schuhschachtel heraus. Auf den Rückseiten standen Sätze wie Ostern 1950: Sieglindchens erster Schultag, Winter 1954: Sieglindchen im Schnee mit Rodel.
Anne fiel die sportive Ausstattung ihrer Schwester auf, und dass Sieglinde fröhlich in die Kamera blickte. Sommer 1956: Ausflug auf die Schwäbische Alb – Bärenhöhle. Weihnachten 1957: Sieglindchen unter dem Tannenbaum.
Manche Schnappschüsse waren körnig und durch falsche Lagerung zur Hälfte grau verschwommen. Kleine quadratische Bilder, deren Ränder wie mit einer Stoffschere gezackt aussahen, hatten eine erstaunlich gute Qualität – Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg. Soldaten auf dem Vormarsch nach Russland. Rauchend vor einem Panzer. Ein Foto zeigte einen Mann mit einem Pferd. Auf der Rückseite stand: Sigismund – Russland Winter 1943.
Anne fielen die Körbe voller Briefe und Postkarten ein, die sie auf dem Speicher abgestellt hatte, als ihre Mutter vom ersten Stock ins Parterre zog.
Sammelleidenschaft einer intensiven Korrespondenz. Auch Feldpostbriefe waren darunter gewesen. Von wem? Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass ihr Vater kein Soldat gewesen sei. Er sei während des Krieges als Arzt im Stuttgarter Gesundheitsministerium Beamter und unabkömmlich – UK – gewesen. Seine SS-Uniform habe er nur bei offiziellen Anlässen getragen und eigentlich nur, weil es von ihm verlangt worden sei. |62| Nach dem Krieg eröffnete er dann die Allgemeinpraxis hier in diesem Haus, bis er überraschend starb. Anne hatte gerade ihren sechsten Geburtstag gefeiert. Sie vermisste ihren Vater immer noch, obwohl sie sich an ihn kaum erinnern konnte.
Die Sparbücher blieben verschwunden. Anne beschloss, in den nächsten Tagen auf dem Dachboden zu suchen.
Während der Renovierarbeiten hatte sie vieles, ohne zu sortieren, dort oben in Kisten abstellen lassen. Vielleicht fand sie die Sparbücher. Suchen musste sie, denn ihre Mutter würde keine Ruhe geben, bis Anne es ihr schwarz auf weiß bewies, dass sie wertlos waren, und selbst dann würde es bei der
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