Blutkirsche
ein runder Tisch, an dem Besprechungen stattfinden konnten. Ein Fernseher und ein Rekorder in einer Ecke ergänzten die Einrichtung.
Anne befestigte den Plan der Gartenanlage, die Tatortfotos von Garten Nummer 13 und Fotos der Spurensicherung an der Pinnwand. Als sie das Fenster öffnete, hörte sich der Verkehr am Pragsattel wie Meeresrauschen an, der Regen tat sein Übriges – vorausgesetzt sie schloss die Augen. Sie atmete tief durch, die Luft war klarer geworden.
‚Mist, schon siebzehn Uhr, der Auftritt von Julian ist sicher schon längst vorbei.‘
Rasch tippte Anne ‚Sorry‘ in ihr Handy und schickte die SMS ab.
Marco mampfte an seinem Schreibtisch das verspätete Mittagessen in Form von belegten Broten und einer Banane. Aus seiner Thermoskanne goss er seinen mitgebrachten Tee in eine Tasse.
Sie waren allein. Hauptkommissar Huber, der sonst zu ihrer Abteilung gehörte, war krank. Burn-out. Es war nicht abzusehen, wann und ob er wiederkam. Die Vertretung von einer anderen Dienststelle hätte schon längst da sein müssen. Falls es wahr wurde! Das Land sparte überall, auch bei der Polizei. Stellen wurden nicht besetzt, Beförderungen hinausgeschoben, Reviere zusammengelegt oder geschlossen. Die Prävention, die Aufklärung kamen zu kurz, immer mehr trat die Bestrafung in den Vordergrund und dies, während das Ansehen der Uniformierten bei der Bevölkerung, besonders bei den Jugendlichen deutlich sank, und deren Gewalt und Kriminalität auf der Straße zunahm.
Auch die zunehmende Respektlosigkeit gegenüber den Ordnungshütern ärgerte Anne, neulich erst war ein Kollege auf Streife angespuckt worden.
Marcos Handy klingelte, er telefonierte leise. Anne konnte aber trotzdem Teile des Gesprächs auffangen: „Das muss aufhören, du brauchst Hilfe – Medikamente, denk’ an unser Kind. Ja, ja, ich komme rechtzeitig.“
Als ihr Mitarbeiter sein Handy weglegte, fragte Anne: „Was ist denn los?“
„Ach, es ist Melanie, sie dreht durch, jetzt spinnt sie völlig. Sie sieht einen Mann hinter sich, es ist aber keiner da. Ich kenne das, beim letzten Mal war es genauso. Und nun ruft sie an, weil sie sich bedroht fühlt. Sie |55| muss dringend zum Arzt, ich halte das nicht mehr aus. Und wenn dem Baby was passiert ...“
Die Verzweiflung stand Marco ins Gesicht geschrieben.
Anne überlegte. „Hast du die von dir handgeschriebenen Zeugenaussagen von deinem Block in den Polizeirechner eingegeben? Auch die von deinem iPhone?“
Marco nickte.
„Also los, fahr heim, kümmere dich um deine Frau! Ich werde wegen der Adressen die Papiere des Vereins selbst durchsehen. Ich brauche dich im Augenblick nicht mehr und werde dich entschuldigen. Sieh zu, dass Melanie zum Arzt geht und das Baby versorgt wird. Kann deine Mutter nicht kommen und euch helfen?“
„Aber ich ...“
„Nichts da, Familie geht vor!“ Anne schubste Marco vom Schreibtisch weg. Er nahm erleichtert seinen Motorradhelm und den Rucksack auf und stürmte hinaus. Marco sollte es nicht so wie ihr ergehen, irgendwann würde sie auf ihr Leben zurückblicken und statt eines Familienlebes nur noch rot-weiße Absperrbänder sehen.
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Anne steckte ihren Palm in die Docking-Station ein, um die Vernehmungsprotokolle und die Notizen in die Computerdatei des Polizeirechners einzufügen.
Ihr Handy klingelte. Das Display zeigte die Telefonnummer ihrer Mutter an.
„Ja, Mama, was ist denn so Dringendes los? Ist was passiert? Oder warum rufst du mich während der Arbeit an?“
„Anne, ich brauche deine Hilfe! Nie bist du da! Weißt du, wo meine Sparbücher sind?“ Magda Wielands Stimme klang klagend.
„Deine Sparbücher? Da ist doch nichts mehr drauf, du, hast sie mir gegeben, um deine Wohnung umzubauen.“ Anne log, um ihre Mutter zu beruhigen, diese regte sich in letzter Zeit so schnell auf. Aber ganz so war es nicht gewesen.
Als Anne nach ihrer Scheidung in das elterliche Haus einziehen wollte, wurden die Praxisräume, die ihre Mutter seit dem Tod von Annes Vater an Ärzte vermietet hatte, gerade frei. Es war ein glücklicher Zufall, genau zu dem Zeitpunkt zog der letzte Mieter in das neu erbaute Gesundheitshaus in der Stuttgarter Straße um, weil es viel zentraler lag und nach modernen Gesichtspunkten eingerichtet wurde.
Die ehemalige Praxis musste renoviert werden. Nicht nur, dass die Elektroanlage völlig veraltet war und die Nachtspeicheröfen umweltgerecht entsorgt werden mussten, als unterste Schicht trat auf den Wänden
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