Blutkirsche
verstummte und hatte sich enttäuscht in sein Gewächshaus zurückgezogen. Wilma radelte nach Hause.
Die Morgensonne schien durch die offenen Gardinen in Annes Schlafzimmer. Das lautstarke Schimpfen der Spatzen weckte sie. Müde rieb sie sich die Augen und trat auf ihren Balkon. Ihr Blick fiel in den Garten und direkt auf die Mauerwand des Lagergebäudes, die noch bis vorgestern von dichtem Efeu bedeckt gewesen war.
„Mama!“, entfuhr ihr ein Schrei der Empörung.
Was hatte ihre Mutter wieder angestellt? Eine kahle Wand, kein Efeu mehr. Gerade dieses üppige Grün hatte den Garten wie eine Oase inmitten der Nachbarschaft ausgewiesen. Nur noch die, wie mit Feuer eingebrannten, braunen Reste der Verästelungen des Klettergewächses konnte Anne darauf erkennen.
Noch im Schlafanzug stürmte Anne die Treppe hinunter. Magda Wieland saß schon fertig angezogen, die silbergrauen Löckchen frisch onduliert, in der Küche und trank ihren englischen Frühstückstee. Sie las die Sonntag Aktuell, diesmal tatsächlich mit ihrer Brille auf der Nase. Anne sah durch die geöffnete Küchentür direkt auf die scheußliche, kahle Mauerwand.
„Mama, was ist da los, wo ist der Efeu?“
„Weg! Herr Yilmaz hat ihn entfernt!“
„Aber warum? Herr Yilmaz, ist das der Nachbar, dem der Anbau gehört?“, fragte Anne erregt.
„Ja, Herr Yilmaz beschwert sich schon seit einiger Zeit, der Efeu würde ihm sein Dach kaputtmachen und da hab’ ich ihm erlaubt, ihn abzuholzen.“
„Und warum fragst du mich nicht vorher? Dem Herrn Yilmaz hätte ich Bescheid gesagt. Der Efeu war schon vor ihm da, es gab eine Abmachung mit dem Vorbesitzer. Und außerdem würde ich Herrn Yilmaz erst einmal darauf hinweisen, dass es eine Sonntagsruhe gibt und er nicht bei jeder Tages- und Nachtzeit seinen Sperrmüll im Hof abladen und einen Wahnsinnkrach dabei machen darf!“
„Wenn du das so siehst, ich wollte keinen Streit. Außerdem hat er so günstig gemacht“, sagte Magda Wieland beharrlich.
„Wie, günstig?“
|67| „Vierhundert Euro und das Grüngut hat er auch mitgenommen.“
„Vierhundert Euro? Ich glaub’s nicht. Hast du gesehen, dass das Mauerwerk an einigen Stellen beschädigt ist? Und wer repariert das? Wir natürlich! Abgesehen davon, dass um diese Jahreszeit nichts gefällt werden darf und in dem Efeu Vögel und Fledermäuse, die übrigens geschützt sind, genistet haben.“ Anne war wütend.
„Ich wollte dir doch nur Arbeit abnehmen“, klagte Magda Wieland und fügte trotzig hinzu: „schließlich ist das mein Haus und mein Garten.“
„Sag mir vorher Bescheid, wenn du mir mal wieder Arbeit an deinem Haus und Garten abnehmen willst“, entgegnete Anne verbittert. Sich aufzuregen, blieb keine Zeit, sie musste sich duschen und ankleiden, frühstücken.
Sie ging zurück in ihre Wohnung, Julian schlief noch. Auf dem Frühstückstisch in ihrer roten Wohnküche lag eine einzelne Rose, daneben ein Umschlag mit der Aufschrift: Ma Card – Julians Aufgaben. Als sie das Kuvert öffnete, zog sie einen Stapel Karteikarten heraus. Auf jeder von ihnen waren, aus einem Werbeprospekt ausgeschnittene, Fotos von Spülmaschinen, Staubsaugern, Mülleimern oder Jugendzimmer zu sehen. Neben die Bilder hatte Julian geschrieben: Für Ma Spülmaschine ausräumen. Für Ma Zimmer aufräumen. Für Ma Mülleimer rausbringen ...
Was für eine tolle Idee, nicht die übliche Schachtel Pralinen oder der obligatorische Blumenstrauß, mit denen Mütter sonst zum Muttertag bedacht werden. Julian muss kurz aufgestanden sein, vorhin lag die Überraschung noch nicht hier, überlegte Anne.
Leise ging sie in das Zimmer ihres Sohnes, er schlief wieder, nur sein Kopf schaute aus der Bettdecke heraus. Der Raum sah aus, als ob eine Stampede darübergegangen wäre. Bücher lagen auf dem Boden – Anne lief im Storchenschritt darüber – Kleidung stapelte sich auf den Stühlen und in jeder freien Ecke. Auf dem Schreibtisch herrschte ein Chaos von Papieren, Ordnern, leeren Coladosen und Fast-Food-Packungen. Der Computer lief noch.
Eine gute Gelegenheit die ‚Ma Card Zimmer aufräumen‘ mal auszuprobieren! Rasch drückte sie Julian einen Kuss auf die Stirn. Er grummelte: „Herzlichen Glückwunsch zum Muttertag!“, und schlief wieder ein.
Ihr Dienst begann um zehn Uhr. Was sollte sie anziehen? Grün und türkis waren ihre Lieblingsfarben, sie passten zu ihren braungrünen Augen. Zwar hatte sie vorgehabt, etwas Schwarzes, auf jeden Fall etwas |68| Dunkles, ihrer
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