Blutkirsche
Rechts daneben standen zwei Medizinschränke, im denen chirurgische Instrumente und Glasgefäße untergebracht waren. In einem Autoklav, der an eine Mikrowelle erinnerte, sterilisierten Skalpelle, Haken und Sägen. Der Wasserhahn über einem Porzellanwaschbecken tropfte. Durch das, mit Glasbausteinen |86| versehene, Oberlicht schien die Sonne herein und reflektierte ohne Wärme wie ein Regenbogen auf den Instrumenten, die auf einem Rolltisch bereitlagen. In einer Ecke stand Marco und unterhielt sich leise mit einer zierlichen, etwa dreißigjährigen Asiatin. Als er Anne bemerkte, kam er auf sie zu. „Morgen, Chefin. Das ist Frau Leni Grimm, kommt von Betrug und Computerkriminalität.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung Kommissarin.
Sieht die niedlich aus, dachte Anne, während sie Leni Grimm begrüßte. Die mandelförmigen freundlichen Augen, die Stupsnase und die tiefschwarzen, zu einem winzigen Pferdeschwanz nach hinten zusammengebundenen Haare, gehörten einer angenehmen Person.
Anne erinnerte sich, dass sie vor Wochen in der Kantine neben ihr gesessen und sich mit ihr unterhalten hatte. Schon damals empfand sie so. Hinterher erzählte ihr ein Kollege, Leni hieße eigentlich Bian, auf Vietnamesisch die ,Geheimnisvolle‘, und sei als kleines Kind von einem deutschen Ehepaar adoptiert worden, nachdem ihre leiblichen Eltern bei dem Versuch umkamen, aus Vietnam als Boatpeople zu flüchten. Das Schiff
Cap Anamur
rettete damals Bian/Leni.
„Grüß Gott, Frau Wieland, wie geht’s? Gibt’s mal wieder Arbeit?“, fragte Doktor Rasch, der Rechtsmediziner, der gerade seine Zigarette weglegte, eine weiße Plastikschürze über die grüne Op-Kleidung anlegte und dünne Latex-Handschuhe anzog.
„Das ist mein Assistent Obabwe.“ Er zeigte auf einen muskulösen dunkelhäutigen Mann, der sich von der weißen Kachelwand wie ein Scherenschnitt abhob. Dieser hob seine Hand zum Gruß. Anne grüßte ihn mit „Hallo“ zurück.
„Morgen! Danke der Nachfrage, mir geht es gut! Wie war die Fahrt?“, erkundigte sich Anne bei dem Mediziner.
Doktor Rasch kam vom Rechtsmedizinischen Institut aus Tübingen und klagte jedes Mal über den Stau bei der Baustelle auf der B 27.
„Na, ja, der übliche Wahnsinn“, kam prompt die brummige Antwort des Arztes.
„Ach so, sind wir jetzt vollzählig?“, fragte Anne, als die Tür aufging und Staatsanwalt Jochen Sommer eintrat. „Entschuldigung, bin zu spät informiert worden.“
„Das hat sich auch erst heute Nacht ergeben. Die Kühlkammern im Krankenhaus sind voll, Busunglück am Engelbergtunnel“, entgegnete Doktor Rasch. „Ansonsten machen wir ja nur die faulen Eier hier, ging aber jetzt nicht anders.“
|87| Bei dem Begriff „faules Ei“ schüttelte Anne sich unwillkürlich. Sie sah die Leichen auf der ‚Body Farm‘, einem zur Universität von Tennessee gehörenden Gelände in Knoxville, wo Wissenschaftler, Kriminologen und Anthropologen die Verwesungsprozesse und die einzelnen Stadien des Zerfalls unter freiem Himmel studieren und dokumentieren können. Sie sah die mit Käfern und Maden durchzogenen Körper. Vor allen Dingen der Leichengestank, der sich in Kleidern und Haaren selbst draußen festsetzte, war ihr noch immer gegenwärtig. Einzelne Knochen und Schädel, von denen das Fleisch abfiel, lagen in der Sonne. Einige Tote zeigten Fraßspuren von Tieren. Der Geruch der Vergänglichkeit ließ Anne schauern.
Günther hatte ihren Besuch als abartig empfunden, sich lieber einen offenen Cadillac geliehen, um auf den Spuren Quentin Tarantinos in der Stadt zu wandeln. „Ich verstehe überhaupt nicht, warum man seinen Körper noch zu Lebzeiten zu so etwas zur Verfügung stellen kann. Da gibt es jemanden in Deutschland, der plastiniert Leichen, ersetzt das Gewebewasser durch Kunststoff, erzeugt haltbare Konservenleichen. Dann werden die Körper positioniert, so als ob sie noch leben und in ‚Körperwelten‘ gezeigt, zu denen die Besucher in Strömen kommen. Stehen stundenlang an, um die Objekte zu bewundern, nichtsahnend, dass vielleicht ein Verwandter oder Nachbar ausgestellt sein könnte. Ich finde das absolut makaber.“
Anne konnte sich die Faszination dieser Show auch nicht erklären.
Trotzdem ließ sie sich später im mexikanischen Guanajuato die Mumien nicht entgehen. Die Haut der Toten – Kinder, Neugeborene, Männer und Frauen – erinnerte an verschrumpelte verdorrte Pflaumen, weil sie sich im mineralhaltigen Boden und der trockenen Luft
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