Blutkirsche
seinen Kopf hin und her bewegte.
Inzwischen lag der Körper wieder auf dem Rücken. Anne sah sich das Gesicht des Opfers noch einmal an und fragte sich:, Wer hat dich getötet? Wem hast du etwas angetan, was war so schlimm, dass man dich umgebracht hat?‘
Doktor Rasch griff nach seinem Skalpell, machte den Y-Schnitt von den Schlüsselbeinen bis zum Schambein, bis der Körper des Mordopfers geöffnet vor ihm lag. Routiniert griff Pathologieassistent Obabwe nach der Säge und teilte das Brustbein in der Mitte durch. Als er mit der Rippenschere die Knochen zerschnitt, hörte es sich wie das Knacken von Hühnerbeinen an.
Obabwe entnahm das Herz – er hatte zu diesem Zweck Handschuhe mit Noppen angezogen – und legte das glitschige Organ auf eine Waage.
Leni Grimm, die bisher im Hintergrund zugesehen hatte, wurde plötzlich kreidebleich, sackte in die Knie, fiel nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf knallend auf den Fliesen auf. Sofort eilten Marco und Jochen zu ihr.
|90| Im ersten Augenblick, als sie das wachsbleiche Gesicht der Kollegin sah, dachte Anne: Noch eine Leiche! Aber dann bemerkte sie, dass Leni nur benommen auf dem Boden lag und sich schon wieder regte.
Als Anne kurz nach dem Wechsel in die Mordkommission zu ihrer ersten Autopsie gerufen wurde, standen um sie herum nur männliche Kollegen. An ihren Sprüchen hatte Anne erkannt, wie sie nur darauf warteten, dass sie sich eine Blöße gab, dass sie schlappmachen und umkippen würde. Aber dann fiel der kräftigste von ihnen. Sie konnte sich noch an seinen Gesichtsausdruck erinnern, wie furchtbar peinlich es ihm war. Männliche Überheblichkeit, dachte Anne, sie muss manchmal einen Dämpfer bekommen. Die Kollegen konnten ja nicht wissen, dass sie sich durch den Aufenthalt in Knoxville präpariert hatte und damit ihnen ein Schritt voraus war.
„Das passiert eben Frischlingen“, meinte Doktor Rasch nun ungerührt, wandte sich von Leni Grimm ab und wieder dem aufgeschnittenen Körper zu. Er fischte die Lungenflügel aus der Brusthöhle.
„Das ist hier was anderes als Betrüger oder Heiratsschwindler zu fassen“, meinte Marco vorwurfsvoll in Richtung Arzt. „Sie blutet am Hinterkopf!“
„Liegen lassen, Beine hoch. Pflaster haben wir keine, Tote bluten nicht!“, rief ihnen der Mediziner amüsiert von seinem Platz aus zu.
Marco und Jochen wollten Leni an den Schultern hochheben und merkten, wie schwer selbst dieser zarte Frauenkörper war, wenn die Muskeln erschlafft sind. Als sie es endlich geschafft hatten, den Oberkörper vom kalten Fußboden aufzuheben, fächelten sie Leni Luft zu.
„Okay, ist uns allen mal passiert. Marco, kannst du dich um die Verletzte kümmern, oder müssen wir den Notarzt rufen?“, fragte Anne.
„Notarzt? Sollen die Friedhofbesucher denken, hier wäre jemand von den Toten auferstanden?“, prustete der, ansonsten stumm seine Arbeit verrichtende, Obabwe heraus und holte die Säge hervor.
Anne bemühte sich, das Lachen unterdrücken. „Gibt es irgendwelche Besonderheiten bei der Leiche?“
„Nein“, antwortete der Rechtsmediziner. Er hielt die Leber mit beiden Händen und legte sie auf den Tisch. Routiniert schnitt er mit einem flachen Messer das Organ in zwei Teile. „Steatose Grad 1“, sprach er ins Mikro bei der Betrachtung der Schnittfläche. „Der Kerl war gesund, eine kleine Fettleber von dem einen oder anderen Glas Trollinger zu viel, aber sonst kerngesund. Abgesehen davon, dass er jetzt tot ist.“
|91| Inzwischen hatte sich Leni etwas erholt und stand wieder auf den Beinen, aber sie war noch immer weiß wie die Kachelwand, Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Sie schwankte leicht. Staatsanwalt Sommer hatte den Arm um sie gelegt und führte sie vor die Tür.
„Sonst noch was?“, erkundigte sich Anne.
„Er hat als Letztes gebratene Göckele gegessen!“, flapste Doktor Rasch, der den Mageninhalt in eine Edelstahlschale kippte und untersuchte. Zu allen anderen Gerüchen kam nun ein säuerlicher hinzu.
Der Mediziner machte den Kopfhautschnitt, streifte die Kopfhaut herunter. Das Gesicht des Toten fiel wie eine Gummimaske zusammen. Gleich darauf erfüllte ein durchdringendes kreischendes Geräusch den Sektionssaal, als Obabwe mit der Säge den Schädel öffnet. Er entnahm das Gehirn.
Mit einer Pinzette zog er ein Stück eines türkis-blau gestreiften kleinen Federbüschels heraus, das zwischen Gehirn und der Kalotte feststeckte.
„Was haben wir denn da?“, fragte der Rechtsmediziner
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