Blutkirsche
verblüfft und trat näher heran. „Ich bin ja kein Biologe, aber in meiner Freizeit Ornithologe. Das sieht mir doch aus wie eine Feder des Garralus Glandarius, eher bekannt als Eichelhäher. Da das Gehirn Fraßspuren aufweist, muss der Vogel sich bedient haben.“
Wieder einmal schüttelte Anne sich. Auch das noch! Das Hirn des Toten als ‚Tischlein deck dich‘.
Die Autopsie neigte sich dem Ende zu, als der Arzt Gewebe- und Flüssigkeitsproben in Behälter umfüllte, und der Pathologieassistent die Leiche mit einer großen runden Nadel zunähte.
„Er näht fast so gut wie ich, wenn ich die Weihnachtsgans fülle“, bemerkte Marco.
Gott sei Dank, er hat seinen Humor wiedergefunden, wenn es auch ein bisschen unpassend ist, dachte Anne und musste selbst grinsen. Als sie mit Marco den Sektionsraum verließ, atmete sie vor der Eingangstür tief durch.
„Na?“, fragte Anne ihre neue Mitarbeiterin, die sich auf die Treppe vor der Leichenhalle gesetzt hatte. Leni hielt ein Stofftaschentuch mit einer Hand auf der Wunde fest. „Geht’s wieder?“
„Einigermaßen“, entgegnete Leni. „Tut mir leid!“
„Ich glaube, ich fahre Frau Grimm besser in die Notaufnahme, sie klagt über Übelkeit und Brechreiz, könnte eine Gehirnerschütterung |92| sein, außerdem muss die Platzwunde genäht werden“, erklärte Jochen Sommer besorgt.
„Okay, nett von dir“, sagte Anne laut. Im Inneren fluchte sie: War ja ein kurzer Auftritt! Aber nichts zu machen. Mussten Marco und sie vorerst alleine weiterermitteln.
Nachdenklich schaute sie dem Staatsanwalt und der Kommissarin nach, als beide den Friedhof zusammen verließen.
Wäre Jochen auch bei einem männlichen Polizisten bereit gewesen, diesen ins Krankenhaus zu fahren? Anne bemerkte einen Anflug von Eifersucht. Sie hatte geglaubt, das Kapitel wäre abgeschlossen, ihre Reaktion überraschte sie.
Aber Jochen konnte tun und lassen, was er wollte, er war ihr keine Rechenschaft schuldig. Sicher bewegte ihn nur kollegiale Anteilnahme.
„Chefin, kann ich nach Melanie sehen? Das Bürgerhospital ist nur einen Katzensprung von hier!“, unterbrach Marco ihre Gedanken.
„Ja, mach’ das mal, ich muss sowieso noch in die Apotheke und zum Geldautomaten“, entgegnete Anne. „Wir treffen uns nachher im Dezernat.“
Magda betrachtete ihre schlafende Erstgeborene. Durch die, wie Bone Chine Porzellan schimmernde, dünne Haut konnte sie die in schnellem Rhythmus pulsierende Schlagader in der Halskuhle sehen.
Sieglinde lag nur mit einem Unterhemd und Höschen bekleidet im Bett. Ihr Reisegepäck bestand aus einer kleinen Tasche, in dem der Pyjama fehlte. Ihre Tochter musste völlig überstürzt ihr Zuhause verlassen haben.
Was hatte sie als Mutter falsch gemacht? War es ihre Schuld? Bestimmt nicht, das ging auch auf das Konto von Hans.
Damals, als die französische Militärpolizei Hans, ihren Mann in Waldenbuch aufgriff, später dem deutschen Gericht übergab, konnte Sieglinde das noch nicht begreifen. Wohl aber die nächsten fünf Jahre, als Hans im Gefängnis saß. Magda konnte sich heute nicht mehr vorstellen, wie sie die Zeit überstanden hatte. Oft mussten Sieglinde und sie hungern. Beim Hamstern versuchte sie bei Bauern in der Umgebung von Stuttgart ihren Schmuck, alles Wertvolle, was sie in den Rucksack hineinstopfen konnte, in Lebensmittel umzutauschen. Besonders schrecklich hatte Magda die Zeit nach der Währungsreform empfunden, als das gesparte Geld sich in Luft auflöste. Aber noch schlimmer als die materielle Not, waren die Lügen, die sie erzählen musste.
|93| Sie konnte ihrer Tochter nicht erklären, dass ihr Vater – wenn auch nicht ihr leiblicher, sondern nur Adoptivvater, aber das wusste Sieglinde nicht – ein Kriegsverbrecher war. Verantwortlich für die massenhafte Vernichtung sogenannten unwerten Lebens.
Hans saß in leitender Stellung im Innenministerium und verteidigte im Prozess die Planung und Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, der Zwangssterilisation und der NS-Euthanasie. Die Morde in Grafeneck an über zehntausend geistig und körperlich kranker Männer, Frauen und Jugendlichen, auch Kinder waren getötet worden, rechtfertigte er damit, dass er als Beamter einen Eid geleistet und zu gehorchen hatte. „Es bestand in dem Heim Mangel an Plätzen, es fehlte Personal und die Ernährung konnte nicht gewährleistet werden.“
‚Außerdem sei er als Arzt nicht nur dem Einzelnen verpflichtet, sondern sähe seine
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