Blutkirsche
Lorenz einen Blick in die Hütte. Der Laptop stand aufgeklappt, eingeschaltet und selbst auf einen Meter Entfernung konnte Lorenz entdecken, was dort auf dem Bildschirm geschah. Ihm stockte der Atem.
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Die Autopsie sollte eigentlich im Robert-Bosch-Krankenhaus stattfinden, aber ein Anruf der Rechtsmedizin hatte Anne zum Pragfriedhof dirigiert. Sie betrat um zehn Uhr den Friedhof durch den Eingang neben der Jugendkirche. Ihr Auto hatte sie in der Eckardtstraße stehen gelassen. Marcos Motorrad war nirgends zu sehen, aber an einem Golf erkannte sie das Nummernschild eines Dienstwagens, den ihr Assistent sehr wahrscheinlich heute fuhr.
Die Blätter der Bäume und Sträucher zwischen den Gräberreihen und an den Wegen, die sonnenstrahlenförmig den Friedhof durchzogen, entfalteten ein sattes Grün. Riesige Tannen- und Laubbäume, die verschiedensten Koniferen gaben Schatten. Dazwischen lagen immer wieder Erdlöcher, in denen ehemals Buchen standen und jetzt durch Bäume ersetzt wurden, die dem Klimawandel Rechnung trugen. Ein Engel mit abgebrochenem Arm wachte über einer Gruft. Verwitterte Mausoleen zeugten vom einstigen Reichtum der Verstorbenen.
Vögel zwitscherten, eine Hummel flog summend vorbei, vom Krematorium her roch es süßlich.
Auf der linken Seite des Weges sicherte ein Zaun das Gebiet mit Steinen, die von Moosflechten überwuchert und in denen Davidsterne eingemeißelt waren. Der Teil des Friedhofs wurde nicht mehr als Begräbnisstätte benutzt.
Anne ging zum Familiengrab. Der zehn Meter hohe Lebensbaum nahm fast die gesamte Ruhestätte ein, die ein schmiedeeisernes, mit grüner Patina überzogenes Gitter umzäunte. Die Stadt ließ sich den Tod teuer bezahlen, Magda Wieland hatte das Grab vor zehn Jahren zum vierten Mal gekauft, kurz vor Kriegsende sogar mit Gold.
Auf dem schwarz-glänzenden Granitstein standen die Namen: Johannes Schlee und Katharina Schlee. Heinrich und Käthe Schlee.
Annes Großeltern und Urgroßeltern mütterlicherseits. Magda Wieland hatte im Testament verfügt, sie wolle bei ihnen bestattet werden.
Sie würde in prominenter Nachbarschaft schwäbischer Dichter, Honoratioren, Denker und Erfinder liegen. Eduard Mörike, Graf Zeppelin, Freiherr von Weizsäcker ruhten hier.
|85| Etwas weiter weg bemerkte Anne eine Gruppe schwarz gekleidete Menschen, deren Gesichter traurig und ernst wirkten. Manche schauten verlegen, eine Frau schluchzte laut, verstummte und stützte sich auf einen kleinen Jungen. Der Pfarrer warf mit einer kleinen Schaufel Erde in die frisch ausgehobene Grube. Über allem schwebte eine merkwürdige Andacht.
El Dia de los Muertes: Anne sah sich inmitten fröhlicher Menschen auf dem Zócalo, dem Marktplatz. Sie lachte Jorge Guzmán verliebt an, sie küssten sich und er hielt ihre Hand fest. Sie folgten der farbigen Prozession zum Friedhof, entlang der überladenen Stände, gefüllt mit bunt gekleideten Skeletten, Totenköpfen aus Marzipan und Zuckerguss, die schon wochenlang vorher gefertigt und verkauft wurden.
Die Gräber schmückten gelbe Ringelblumen, weiße Dahlien und brennende Kerzen, ein Füllhorn von Blüten und Gerüchen. Daneben lagerten Angehörige – ganze Familien hatten sich versammelt. Kleine Kinder spielten zwischen den Gräberreihen Fangen, in Rebozos eingepackte Babys schliefen auf dem Rücken der Mütter. Männer saßen zusammen und rauchten lange Zigarillos. Von irgendwo her wehte Mariachimusik.
Die Opfergaben wurden niedergelegt – Süßigkeiten, Obst, gekochte Speisen – eben das, was der Verstorbene gerne zu Lebzeiten gegessen hatte. Auch der Meskal und Tequilla fehlten nicht und sollten bei der Feier fließen.
Die Lebenden waren eins mit ihren Toten und hofften, dass die Gebete erhört würden, während das Fest zwei Tage und Nächte dauerte.
Anne betrat den Sektionsraum. Sie fröstelte, froh darüber, dass sie unter ihrer Jacke ein langärmliges T-Shirt und heute ausnahmsweise eine Jeans angezogen hatte. Es roch nach Desinfektionsmitteln.
Die Wände waren weiß gekachelt, während den Fußboden graue Steinfliesen bedeckten. In der Mitte des Bodens, unter dem Edelstahltisch, auf dem die abgedeckte Leiche lag, befand sich ein Loch, in den später Blut, Wasser und Körperflüssigkeiten abfließen konnten. Von der Decke herab tauchte eine Leuchtröhre den Obduktionstisch in ein helles, fast bläuliches Licht. An der Wand hing ein eingeschalteter Schaukasten mit Röntgenbildern des Schädels und der Zähne.
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